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Das sündige Viertel

Das sündige Viertel

Titel: Das sündige Viertel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Kuprin
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trotzdem, wenn sie auch bescheiden gekleidet ist, dachte Platonow, als er sie mit wie üblich zusammengekniffenen Augen von fern betrachtete, trotzdem dreht sich jeder Mann, der vorbeigeht, bestimmt drei-, viermal nach ihr um und gafft: man spürt eben das spezielle Fluidum.
    »Guten Tag, Shenka! Ich freue mich sehr«, sagte er freundlich und drückte dem Mädchen die Hand. »Ich habe schon gar nicht mehr damit gerechnet.«
    Shenka war zurückhaltend, melancholisch und offenbar durch irgend etwas deprimiert. Das spürte Platonow sofort.
    »Entschuldige, Shenetschka, ich muß jetzt zu Mittag essen«, sagte er. »Vielleicht kommst du mit und erzählst, was los ist, dann kann ich gleichzeitig essen. Hier ganz in der Nähe ist eine bescheidene Kneipe. Um diese Zeit ist es dort gar nicht voll, es gibt sogar ein kleines Extrazimmer – dort haben wir es genau richtig. Komm! Vielleicht ißt du auch was.«
    »Nein, essen werde ich nicht«, erwiderte Shenka heiser, »ich halte Sie auch nicht lange auf … nur ein paar Minuten. Ich muß mich mit jemandem beraten, mit jemandem reden, und ich habe sonst niemanden.«
    »Sehr gut … Nun komm! Wenn ich irgend kann, helfe ich dir. Ich mag dich sehr gern, Shenka!«
    Sie sah ihn traurig und dankbar an.
    »Ich weiß, Sergej Iwanowitsch, deshalb bin ich auch gekommen.«
    »Vielleicht brauchst du Geld? Sag es offen. Ich selbst habe wenig, aber das Artel gibt mir Vorschuß.«
    »Nein, danke … Ganz was anderes. Ich erzähle dann dort, wo wir hingehen, alles.«
    In der düsteren niedrigen Kneipe, einem Treffpunkt kleiner Diebe, wo nur abends und bis in die späte Nacht geschachert wurde, ging Platonow in ein halbdunkles kleines Zimmer.
    »Bring mir gekochtes Fleisch, Gurken, ein großes Glas Wodka und Brot«, bestellte er beim Kellner.
    Der Kellner – ein junger Kerl mit schmutzigem Gesicht, stupsnasig und rundum so dreckig, als hätte man ihn soeben aus der Müllgrube gezogen – wischte sich die Lippen und fragte krächzend: »Für wieviel Kopeken Brot?«
    »Wie's kommt.«
    Dann mußte er lachen: »Bring soviel wie möglich – wir rechnen anschließend ab. Und Kwaß! – Nun, Shenja, sag, was dich bedrückt … Ich sehe dir an der Nasenspitze an, daß es etwas Schlimmes ist … Erzähl!«
    Lange knüllte Shenka ihr Taschentuch und sah auf ihre Schuhe, als sammle sie Kraft. Schüchternheit übermannte sie, und sie fand beim besten Willen nicht die richtigen Worte.
    Platonow kam ihr zu Hilfe: »Genier dich nicht, liebe Shenja, sag mir alles! Du weißt doch, daß ich euer Freund bin und niemals etwas verrate. Und vielleicht kann ich dir wirklich einen guten Rat geben. Na los, fall ruhig mit der Tür ins Haus! Fang an!«
    »Das weiß ich eben nicht, wie ich anfangen soll«, sagte Shenka unentschlossen. »Also ja, Sergej Iwanowitsch, ich bin krank … Verstehen Sie? Schlimm krank … Ich habe die allerscheußlichste Krankheit … Sie wissen, welche ich meine?«
    »Weiter!« sagte Platonow und nickte.
    »Und ich habe das schon lange … über einen Monat … vielleicht anderthalb … Ja, über einen Monat, denn ich habe es genau zu Pfingsten gemerkt …«
    Platonow strich sich rasch mit der Hand über die Stirn.
    »Warte mal, mir fällt etwas ein … War das der Tag, als ich mit den Studenten bei euch war? Ja?«
    »Genau, Sergej Iwanowitsch, stimmt.«
    »Ach, Shenka«, sagte Platonow vorwurfsvoll und bedauernd. »Du weißt doch wohl, daß danach zwei von den Studenten erkrankt sind … Etwa durch dich?«
    Shenkas Augen blitzten zornig und verächtlich.
    »Vielleicht durch mich … Wie soll ich das wissen? Es waren viele … Ich weiß noch, da war der eine, der sich immerzu mit Ihnen anlegen wollte. So ein Großer, Blonder, mit Kneifer …«
    »Ja, ja. Das ist Sobaschnikow. Man hat es mir erzählt. Er gehört dazu. Nun, das wäre noch nicht das Schlimmste – dieser Fatzke! Aber der andere, um den tut's mir leid. Ich kenne ihn zwar schon lange, aber nach seinem Namen habe ich mich nie richtig erkundigt. Ich weiß nur, der Familienname ist von einer Stadt abgeleitet – Poljansk … Swenigorodsk … Die Freunde nannten ihn Ramses … Als die Ärzte – er hat mehrere konsultiert –, als sie ihm endgültig sagten, daß er an Lues erkrankt ist, ging er nach Hause und erschoß sich. Auf dem Zettel, den er hinterließ, standen erstaunliche Worte, etwa so: ›Ich sah allen Sinn des Lebens im Triumph des Geistes, der Schönheit und des Guten; mit dieser Krankheit bin ich kein Mensch mehr, sondern

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