Das sündige Viertel
ersticke vor Wut. Ich habe gedacht: Das ist das Ende, nun gibt es nichts mehr zu bereuen, nichts mehr zu betrauern, nichts mehr zu erwarten … Basta! Aber für alles, was ich durchgemacht habe – gibt's dafür wirklich keine Vergeltung? Gibt es wirklich keine Gerechtigkeit auf der Welt? Kann ich nicht einmal mehr die Rache genießen? Dafür, daß ich niemals Liebe kennengelernt habe, eine Familie nur vom Hörensagen kenne, daß man mich wie ein räudiges Hündchen rufen, streicheln und dann mit dem Stiefel vor den Kopf stoßen kann – hau ab! Daß man aus mir, aus einem Menschen, der ihnen allen gleich und der nicht dümmer ist als alle, die ich kenne, einen Aufwischlappen gemacht hat, ein Abflußrohr für ihre schmutzigen Vergnügungen, pfui! Soll ich denn zu all dem jetzt auch noch diese Krankheit dankbar hinnehmen? Bin ich etwa ein Sklave? Ein sprachloser Gegenstand? Eine Schindmähre? … Sehen Sie, Platonow, damals habe ich mir vorgenommen, sie alle anzustecken – Junge, Alte, Arme, Reiche, Schöne, Häßliche, alle, alle, alle!«
Platonow, der schon lange seinen Teller von sich geschoben hatte, sah sie mit Erstaunen an, mehr noch – beinahe mit Grauen. Er, der in seinem Leben viel Schweres, Schmutziges, zuweilen sogar Blutiges mit angesehen hatte, er bekam kreatürliche Angst angesichts dieses maßlosen, lange angestauten Hasses. Er riß sich zusammen und sagte: »Ein großer französischerSchriftsteller [19] schildert einen solchen Fall. Die Preußen hatten die Franzosen besiegt und schikanierten sie auf alle nur mögliche Weise: Sie erschossen die Männer, vergewaltigten die Frauen, raubten die Häuser aus, steckten die Felder in Brand … Und da begann eine schöne Frau – eine Französin, eine sehr schöne Frau –, nachdem sie sich angesteckt hatte, bewußt alle Deutschen anzustecken, die in ihre Umarmung kamen. Sie hat Hunderte, vielleicht sogar Tausende krank gemacht. Und als sie im Krankenhaus starb, erinnerte sie sich daran mit Freude und Stolz … Doch das waren immerhin Feinde, die ihr Vaterland zerstört und ihre Brüder geschlagen hatten … Aber du, Shenetschka, du?«
»Ich – alle, durch die Bank alle! Sagen Sie mir, Sergej Iwanowitsch, sagen Sie mir auf Ehre und Gewissen, wenn Sie auf der Straße ein Kind fänden, das jemand geschändet hätte, entehrt … nun, sagen wir, ihm die Augen ausgestochen und die Ohren abgeschnitten hätte, und wenn Sie erführen, daß dieser Mensch jetzt eben an Ihnen vorbeigeht und daß nur Gott allein, wenn es ihn gibt, Ihnen in diesem Moment vom Himmel aus zuschaut – was würden Sie tun?«
»Ich weiß nicht«, erwiderte Platonow dumpf und mit gesenktem Blick, aber er war ganz blaß geworden und preßte die Finger unterm Tisch krampfhaft zur Faust. »Vielleicht würde ich ihn umbringen …«
»Nicht vielleicht, sondern ganz bestimmt! Ich kenne Sie, ich fühle das. So, und nun bedenken Sie: Jede von uns ist doch genauso geschändet worden, als wir noch Kinder waren! Ja, Kinder!« stöhnte Shenka leidenschaftlich und bedeckte die Augen einen Moment mit der Hand. »Darüber haben Sie doch selbst einmal bei uns gesprochen, ich erinnere mich, war es nicht an demselben Abend zu Pfingsten … Ja, Kinder, dumme, zutrauliche, blinde, gierige, unbedarfte Kinder … Und nun können wir uns nicht befreien von unseren Fesseln – wo soll man hin, was soll man tun? … Und denken Sie bitte nicht, Sergej Iwanowitsch, in mir wäre nur Zorn auf die, die mich, mich ganz persönlich, mißhandelt haben. Nein, überhaupt auf alle unsere Gäste, auf diese Kavaliere, vom kleinsten bis zum größten. Und so hab ich eben beschlossen, für mich und meine Schwestern Rache zu nehmen. Ist das richtig oder nicht?«
»Shenetschka, ich weiß es wirklich nicht … Ich kann nicht … Ich wage nichts zu sagen … Ich kann es nicht beurteilen.«
»Aber das ist auch nicht das Wichtigste. Die Hauptsache kommt noch … Ich habe sie also angesteckt, und ich habe nichts empfunden – kein Mitleid, keine Reue, kein Schuldgefühl, weder vor Gott noch vor dem Vaterland. Ich habe mich nur gefreut, wie ein hungriger Wolf, der Blut schmeckt. Aber gestern ist etwas geschehen, was ich nicht begreifen kann. Zu mir kam ein Kadett, ein richtiger Junge noch, ein Dummchen, ein Grünschnabel. Er kam schon seit dem vorigen Winter manchmal zu mir. Und auf einmal tat er mir leid … Nicht etwa, weil er sehr hübsch und sehr jung war, auch nicht, weil er immer sehr höflich war, vielleicht sogar zärtlich …
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