Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das sündige Viertel

Das sündige Viertel

Titel: Das sündige Viertel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Kuprin
Vom Netzwerk:
Fuhrwerke. Der Meister – ein großer, stämmiger Poltawaer namens Saworotny – hatte außerordentlich geschickt den Auftraggeber überrumpelt, einen jungen, offenbar noch nicht sehr erfahrenen Mann. Zwar besann sich dieser später und wollte die Bedingungen ändern, doch erfahrene Melonenbauern rieten ihm rechtzeitig ab: »Lassen Sie. Die bringen Sie um«, sagten sie ihm einfach und schonungslos. Infolgedessen verdiente jetzt jedes Mitglied des Artels bis zu vier Rubel täglich. Sie arbeiteten alle mit Feuereifer, geradezu wild drauflos, und wenn es möglich gewesen wäre, die Arbeit jedes einzelnen mit einem Gerät zu messen, so wäre sie wahrscheinlich, nach Gewicht und zurückgelegter Entfernung, der Tagesleistung eines Woronesher Lastpferdes gleichgekommen.
    Doch Saworotny war auch damit nicht zufrieden – er trieb und trieb seine Männer an. In ihm regte sich der Berufsehrgeiz: Er wollte den Tagesverdienst jedes Artelmitglieds auf fünf Rubel pro Nase steigern. Und so flogen die feuchten grünen und weißen Melonen lustig und leicht vom Hafen zum Fuhrwerk, sich drehend und glänzend, und saftig hörte man sie in den arbeitsgewohnten Händen klatschen.
    Doch nun erscholl im Hafen auf einem Erdbagger ein langgezogenes Tuten. Ihm antwortete ein zweites, ein drittes auf dem Fluß, noch einige am Ufer, und sie dröhnten lange im gewaltigen, vielstimmigen Chor.
    »Paaausee!« brüllte Saworotny heiser und dumpf wie eine Schiffssirene.
    Noch ein paar letzte Schlapp-schlapp-Geräusche, und schon stand die Arbeit still.
    Genußvoll reckte Platonow den Rücken, bog sich nach hinten und streckte die geschwollenen Arme. Mit Vergnügen merkte er, daß er nun schon den ersten Schmerz in allen Muskeln überwunden hatte, der einem anfangs so zu schaffen macht, wenn man der Arbeit entwöhnt ist und sich erst wieder hineinfinden muß. An den vorangegangenen Tagen, wenn er morgens in seiner Bude in der Temnikowskaja-Straße erwacht war – ebenfalls beim Ruf der Fabriksirene –, hatte er in den ersten Minuten so heftige Schmerzen in Nacken, Rücken, Armen und Beinen verspürt, daß es ihm schien, nur ein Wunder könne ihn dazu bringen, aufzustehen und ein paar Schritte zu gehen.
    »Mittaaagessen!« brüllte Saworotny abermals.
    Die Verladearbeiter gingen zum Fluß, knieten nieder oder legten sich bäuchlings auf Stege und Planken, schöpften mit den Händen Wasser und wuschen sich die feuchten, erhitzten Gesichter und Arme. Gleich hier am Ufer, seitlich, wo noch ein wenig Gras wuchs, lagerten sie sich zum Mittagessen. Ein Dutzend überreife Melonen, Schwarzbrot und zwanzig kleine Fische wurden kreisförmig hingelegt. Gawrjuschka Pulja lief schon mit einer großen leeren Flasche in die Kneipe und sang dabei ein Liedchen, das bei Soldaten als Signal zum Essenfassen galt:
    »Kochgeschirr und Löffel raus,
Schmeckt auch ohne Brot, der Schmaus.«
    Ein barfüßiger kleiner Junge, schmutzig und so abgerissen, daß man weitaus mehr nacktes Fleisch sah als Kleidung, kam angelaufen.
    »Wer ist hier Platonow?« fragte er und ließ seine flinken Diebsäuglein kreisen.
    Sergej Iwanowitsch meldete sich: »Ich bin Platonow, und du?«
    »Dort drüben hinter der Kirche, da wartet ein Fräulein auf dich … Hier, ein Brief.«
    Die Arbeiter begannen zu wiehern.
    »Was reißt ihr die Mäuler auf, ihr Ochsen!« sagte Platonow gelassen. »Gib den Brief her.«
    Es war ein Brief von Shenka, mit naiver, runder Kinderschrift in schräglaufenden Zeilen geschrieben und orthographisch nicht ganz einwandfrei.
    »Sergej Iwanytsch. Entschuldigen Sie bitte. Ich muß mit Ihnen sprechen über eine sehr, sehr wichtige Sache. Wegen Kinkerlitzchen würde ich Sie nicht belestigen. Bloß 10 Minuten. Ihre bekannte Shenka von Anna Markowna.«
    Platonow stand auf.
    »Ich bleibe nicht lange weg«, sagte er zu Saworotny. »Wenn's weitergeht, bin ich zur Stelle.«
    »So was«, sagte der Meister träge und verächtlich. »Für solche Sachen ist die Nacht da … Na los, geh, wer hält dich denn. Aber wenn wir weitermachen und du bist nicht da, dann kriegst du nichts für heute. Dann nehm ich den erstbesten Hergelaufenen. Und was der kaputtschmeißt, geht auf deine Rechnung … Hätte nicht gedacht, Platonow, daß du so ein geiler Bock bist …«
    Shenka erwartete ihn in einer kleinen Grünanlage zwischen Kirche und Flußufer, die aus einem Dutzend dürftiger Pappeln bestand. Sie trug ein graues Ausgehkleid und einen schlichten runden Strohhut mit schwarzem Band. Und

Weitere Kostenlose Bücher