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Das sündige Viertel

Das sündige Viertel

Titel: Das sündige Viertel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Kuprin
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Bescheinigung von der Polizei und eine vom Arzt. Sie war nicht bei Sinnen. In einem Anfall von Geistesgestörtheit …«
    Tamara reichte dem Priester zwei Papiere, die Rjasanow ihr am Vortag geschickt hatte, und dazu drei Schecks zu je zehn Rubel. »Ich bitte Sie, Hochwürden, daß alles auf christliche Art gehalten wird, wie es sich gehört. Sie war ein wunderbarer Mensch und hat sehr viel gelitten. Und seien Sie so gütig, sie auch auf den Friedhof zu begleiten und dort noch eine Messe zu lesen.«
    »Bis zum Friedhof kann ich mitkommen, aber auf dem Friedhof selbst darf ich die Messe nicht lesen – dort gibt es eine eigene Geistlichkeit … Und außerdem, junge Frau: Da ich dann noch einmal zurück muß wegen der anderen, so sollten Sie … nun ja, noch einen Zehner zulegen.
    Und nachdem er von Tamara das Geld bekommen hatte, segnete der Priester das Weihrauchfaß, das der Psalmenleser ihm gereicht hatte, und schritt, dieses schwenkend, um den Körper der Verstorbenen herum. Dann blieb er ihr zu Häupten stehen und sprach mit demütiger, professionell geübter Trauerstimme: »Gepriesen sei unser Gott immerdar, heute und in alle Ewigkeit!«
    Der Psalmenleser plapperte: »Heiliger Gott«, »Heilige Dreieinigkeit« und »Vater unser« – es klang, als prasselten Erbsen auf den Boden.
    Leise, als verrieten sie ein tiefverborgenes trauriges Geheimnis, stimmten die Sänger ein flinkes, wohltönendes Rezitativ an: »Im Geiste der gerechten Verstorbenen, rette und führe zum Frieden die Seele deiner Magd. Erhalte sie im seligen Leben, denn du liebst die Menschen.«
    Der Psalmenleser verteilte Kerzen, sie wurden angezündet, eine nach der anderen, und beleuchteten in der schweren trüben Luft mit ihren warmen, sanften, lebendigen Flammen zart die Frauengesichter.
    Harmonisch strömte die traurige Melodie dahin, und wie Seufzer bekümmerter Engel erklangen die erhabenen Worte: »Führe zum Frieden, Herrgott, deine Magd und nimm sie auf ins Paradies. Da leuchten die Angesichter der Heiligen und der Gerechten wie Gestirne. Führe zum Frieden deine verstorbene Magd, indem du ihr alle Sünden vergibst.«
    Tamara lauschte den bekannten, aber lange nicht mehr gehörten Worten und lächelte bitter. Sie dachte an Shenkas leidenschaftliche, wahnwitzige Reden, die so voll auswegloser Verzweiflung und Unglauben gewesen waren. Ob der barmherzige, gütige Herrgott ihr wohl ihr schmutziges, vergiftetes, gemeines Leben verzeihen würde oder nicht? Allwissender, solltest du sie wahrhaftig zurückstoßen, die traurige Rebellin, die Sünderin wider Willen, das Kind, das deinen lichten, heiligen Namen gelästert hat? Du bist doch die Güte, du bist unser Trost!
    In der Kapelle erklang dumpfes, verhaltenes Weinen, das plötzlich in einen Schrei überging: »Oh, Shenetschka!« Es war die Blonde Manka, die auf den Knien lang, sich ein Tuch vor den Mund preßte und Tränen vergoß. Und nach ihr knieten auch die anderen Freundinnen nieder, und die Kapelle war erfüllt von Seufzern und unterdrücktem Schluchzen.
    »Er allein ist unsterblich, der den Menschen erschaffen hat, wir Irdischen aber sind von Erde genommen und werden wieder zu Erde werden, denn so will es der Schöpfer, der unser Schicksal in seiner Hand hat, daß du von Erde bist und wieder zu Erde werden sollst.«
    Tamara stand reglos, mit düsterem, wie versteinertem Gesicht. Das Kerzenlicht warf dünne goldene Spiralen auf ihr kastanienbraunes Haar, und sie wandte kein Auge von Shenkas feucht-gelber Stirn und ihrer Nasenspitze, die von Tamaras Standort aus zu sehen waren.
    Von Erde bist du und sollst wieder zu Erde werden …, wiederholte sie in Gedanken die Worte des Gesangs. Sollte es wirklich so sein: Erde und weiter nichts? Und was wäre besser: gar nichts zu sein oder wenigstens irgend etwas, und sei es das Geringste, nur um zu existieren?
    Der Chor, als bestätige er ihre Gedanken, als wolle er ihr den letzten Trost rauben, sang hoffnungslos: »Und vergehen müssen alle Menschen …«
    Das »Ewige Gedenken« wurde gesungen, die Kerzen wurden gelöscht, und dunkle Rauchfäden schwebten in der vom Weihrauch bläulichen Luft. Der Priester betete das Abschiedsgebet, und anschließend nahm er unter allgemeinem Schweigen eine kleine Schaufel von dem Sand, den der Psalmenleser ihm reichte, und schüttete ihn kreuzförmig auf das Musselintuch, das die Leiche bedeckte. Dabei sprach er die erhabenen Worte, die von der harten, traurigen Gesetzmäßigkeit der geheimnisvollen Weltordnung

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