Das sündige Viertel
vorerst nicht zu mir. Aber später, später, Schatz, alles, was du willst … Bald ist alles vorüber!«
»Ach, wenn du mich doch nicht so lange quälen würdest! Mach bald Schluß dort!«
»Und ob! Warte nur noch eine Woche, Lieber! Hast du das Pulver besorgt?«
»Kleinigkeit!« erwiderte Senka beleidigt. »Übrigens nicht Pulver, sondern Pillen.«
»Und es stimmt, daß sie sich in Wasser gleich auflösen?«
»Klar. Hab's selbst gesehen.«
»Aber er stirbt nicht? Höre, Senja, er stirbt nicht? Ist das sicher?«
»Ihm passiert nichts. Er schläft bloß … Ach, Tamarka!« flüsterte er leidenschaftlich und reckte sich plötzlich vor lauter unerträglicher Leidenschaft so heftig, daß seine Gelenke knackten. »Mach bloß bald Schluß, um Gottes willen! Wir drehen das Ding und – ab geht's! Wohin du willst, Täubchen! Ich überlasse es ganz dir: Wenn du willst, hauen wir nach Odessa ab, wenn du willst, auch ins Ausland. Mach bald Schluß!«
»Ja doch, ja doch …«
»Du brauchst nur mit dem Finger zu schnipsen, schon bin ich zur Stelle – mit Pulver, Werkzeug und mit Pässen … Und dann – adieu, ab geht die Post! Tamarotschka! Mein Engel! Mein Goldstück, mein Brillant …«
Und er, der stets so beherrscht war, vergaß, daß Fremde sie sehen könnten, und wollte Tamara schon umarmen und an sich pressen«.
»Na, na!« Tamara sprang flink und geschickt wie eine Katze auf. »Später … später, Senetschka, später, Liebster! Dann bin ich ganz für dich da – ohne Rücksichten und Verbotsschilder. Ich werde dir noch früh genug über werden … Leb wohl, mein Dummerchen!«
Und nachdem sie mit einer raschen Handbewegung seine schwarzen Locken gezaust hatte, verließ sie eilig das Café.
8
Tags darauf, am Montag, gegen zehn Uhr morgens, fuhren fast alle Bewohner des ehemaligen Hauses der Madame Schäubes, das jetzt Emma Eduardowna Titzner gehörte, mit Droschken ins Stadtzentrum zur Anatomie – alle außer der weitsichtigen, erfahrenen Henriette, der ängstlichen und gefühlskalten Ninka und der schwachsinnigen Paschka, die bereits seit zwei Tagen das Bett nicht mehr verließ, schwieg und Fragen nur mit einem verzückten Idiotenlächeln und unartikulierten tierischen Lauten beantwortete. Wenn man ihr nichts zu essen gab, fragte sie auch nicht danach, brachte man ihr aber etwas, so aß sie gierig, gleich mit den Händen. Sie war so nachlässig und vergeßlich geworden, daß sie, um größere Unannehmlichkeiten zu vermeiden, an einige natürliche Körperfunktionen erinnert werden mußte. Emma Eduardowna ließ Paschka nicht zu ihren Stammgästen, die jeden Tag nach ihr verlangten. Auch früher hatte das Mädchen zuweilen solche Perioden von geistiger Umnachtung gehabt, doch die hielten nie lange an, und so wollte Emma Eduardowna auf jeden Fall erst einmal abwarten. Paschka war ein echter Schatz für das Etablissement und zugleich sein wahrhaft schreckliches Opfer.
Die Anatomie war ein flaches, langgestrecktes dunkelgraues Gebäude mit weißen Umrandungen um Fenster und Türen. Schon von außen wirkte sie geduckt, zu Boden gepreßt, beinahe unheimlich. Die Mädchen, eines nach dem anderen, blieben am Tor stehen und gingen dann scheu über den Hof in die Kapelle, die auf der anderen Hofseite stand, ebenso dunkelgrau mit weißen Fenster- und Türrahmen.
Die Tür war verschlossen. Der Wächter mußte geholt werden. Mit Mühe gelang es Tamara, einen uralten glatzköpfigen Greis ausfindig zu machen, der war von grauen Bartstoppeln überwuchert wie von filzigem Moos, hatte kleine tränende Augen und eine große, fladenförmige, rotblaue Höckernase.
Er öffnete das riesige Vorhängeschloß, schob den Riegel zurück und stieß die verrostete, knarrende Tür auf. Feuchte, kalte Luft, zusammen mit dem Geruch von nassen Mauern, Weihrauch und Aas, schlug den Mädchen entgegen. Sie wichen zurück und drängten sich furchtsam aneinander. Nur Tamara folgte unbeirrt dem Wächter.
In der Kapelle war es nahezu finster. Das Herbstlicht drang spärlich durch ein schmales vergittertes Fenster, wie im Gefängnis. Zwei oder drei Heiligenbilder ohne Einfassung, dunkel und unpersönlich, hingen an den Wänden. Ein paar einfache Brettersärge standen auf dem Fußboden auf hölzernen Traggestellen. Einer in der Mitte war leer, und der Sargdeckel lag daneben.
»Welche ist nun eure?« fragte der Wächter heiser und schnupfte Tabak. »Erkennt ihr sie am Gesicht oder nicht?«
»Doch.«
»Na, dann guck! Ich zeig sie dir alle. Die
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