Das sündige Viertel
vielleicht?«
Und er hob einen der Sargdeckel ab, der noch nicht festgenagelt war. Dort lag eine runzlige Greisin in Lumpen mit blauem, gedunsenem Gesicht. Ihr linkes Auge war geschlossen, das rechte quoll hervor und blickte starr und schrecklich, schon ohne jeden Glanz, wie überalterter Glimmer.
»Die nicht, sagst du? Na, guck nur weiter … Hier noch, und hier!« sagte der Wächter und zeigte ihr, die Sargdeckel anhebend, eine Leiche nach der anderen, offensichtlich alles arme Schlucker: auf der Straße aufgelesen, besoffen, zerquetscht, verstümmelt, schon in Verwesung übergehend. Manche hatten bereits blaugrüne Flecken auf Armen und Gesichtern, die wie Schimmel aussahen – Anzeichen der Fäulnis. Bei einem Mann, dem die Nase fehlte und dessen Oberlippe durch eine Hasenscharte gespalten war, wimmelten auf dem schwärenzerfressenen Gesicht Maden wie kleine weiße Punkte. Eine Frau, die an Wassersucht gestorben war, ragte wie ein Berg aus ihrem Bretterverschlag heraus, den Deckel hochtreibend.
Sie alle waren nach der Obduktion von dem Wächter und seinen Kollegen eilig wieder zusammengeflickt und gewaschen worden. Was machte es denen aus, wenn zuweilen das Gehirn in den Magen geriet und wenn sie die Hirnschale mit der Leber füllten und sie mit Hilfe von Heftpflaster lose mit dem Kopf verbanden? In ihrem unwirklichen, alptraumhaften, versoffenen Leben hatten sich die Wächter an alles gewöhnt, und ihre stummen Klienten hatten übrigens auch fast niemals Verwandte oder Bekannte.
In der Kapelle hing schwerer Aasgeruch, so dicht und klebrig, daß es Tamara schien, er verstopfe alle Poren ihres Körpers wie Kleister.
»Hören Sie«, wandte sich Tamara an den Wächter, »was knackt denn da immerzu unter meinen Füßen?«
»Knackt?« fragte der Alte zurück und kratzte sich. »Na, Läuse wahrscheinlich«, sagte er gleichmütig. »An den Toten vermehrt sich das Viehzeug immer ganz wahnsinnig! … Also wen suchst du nun – Männlein oder Weiblein?«
»Eine Frau«, antwortete Tamara.
»Und die hier sind alles nicht deine?«
»Nein, das sind alles Fremde.«
»Na so was! Da muß ich mal in der Totenhalle gucken. Wann ist sie denn gebracht worden?«
»Am Sonnabend, Großväterchen!« Tamara zog ihr Portemonnaie heraus. »Am Sonnabend vormittag. Hier, mein Guter, hast du was für Tabak.«
»Das klingt schon besser! Am Sonnabend, sagst du, vormittags? Und was hatte sie an?«
»Fast nichts: Nachtjäckchen und Unterrock … beides weiß.«
»Soso! Wahrscheinlich Nummer zweihundertsiebzehn … Und wie heißt sie?«
»Susanna Raizyna.«
»Ich gucke gleich mal nach – vielleicht ist sie's … Na, ihr Fräuleins«, wandte er sich an die Mädchen, die sich in der Tür drängten und das Licht versperrten. »Wer von euch hat Mut? Wenn eure Bekannte vorgestern gekommen ist, dann liegt sie jetzt so da, wie der Herrgott alle Menschen geschaffen hat, mit nichts auf'm Leib … Na, wer hat Courage? Welche zweie von euch kommen mit? Angezogen muß sie werden …«
»Vielleicht du, Manka«, forderte Tamara die Freundin auf, die, kalt und blaß vor Grauen und Ekel, die Leichen mit weit offenen hellen Augen ansah. »Keine Angst, du Dumme – ich bin doch bei dir! Wer sollte gehen, wenn nicht du?«
»Schon gut … schon gut«, stammelte die Blonde Manka, die Lippen kaum bewegend. »Ich komme mit. Ist ja egal …«
Die Totenhalle war gleich hinter der Kapelle – ein niedriger, völlig finsterer Keller, in den sechs Stufen hinabführten.
Der Wächter lief noch einmal weg und kehrte mit einem Kerzenstummel und einem zerflederten Buch zurück. Als er die Kerze angezündet hatte, erblickten die Mädchen etwa zwei Dutzend Leichen, die in geraden Reihen direkt auf dem Steinfußboden lagen – ausgestreckt, gelb, mit vom Todeskrampf verzerrten Gesichtern, teilweise mit offenen Schädeln, mit Blutergüssen auf den Gesichtern, mit gebleckten Zähnen.
»Gleich … gleich …«, sprach der Wärter vor sich hin und fuhr mit dem Finger die Rubriken entlang. »Vorgestern … also am Sonnabend … Sonnabend … Wie war der Name?«
»Raizyna, Susanna«, antwortete Tamara.
»Raizyna, Susanna«, las der Alte vor. »Raizyna, Susanna. Stimmt. Nummer zweihundertsiebzehn.«
Er beugte sich über die Toten und beleuchtete sie mit dem tropfenden Kerzenstummel. So ging er von einem zum anderen.
Schließlich blieb er neben einem Leichnam stehen, auf dessen Bein mit Tinte in großen schwarzen Ziffern »217« stand.
»Da haben wir sie! Paßt
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