Das sündige Viertel
sitzen«, erwiderte der Journalist an Lichonins Statt. »Sie stört uns nicht«, wandte er sich an den Studenten und lächelte flüchtig. »Das Gespräch wird sich doch um die Prostitution drehen? Stimmt's?«
»Nun ja … gewissermaßen …«
»Na fabelhaft. Dann hör ihr gut zu. Ihre Ansichten sind zwar außergewöhnlich zynischer Art, aber zuweilen überaus bedenkenswert.«
Lichonin rieb und knetete mit den Händen kräftig sein Gesicht, dann verschränkte er die Finger und ließ sie zweimal nervös knacken. Man sah, daß er aufgeregt war und sich selbst dessen schämte, was er sagen wollte.
»Ach, es ist doch ganz egal!« rief er plötzlich ärgerlich aus. »Du hast heute über diese Frauen gesprochen … Ich habe dir zugehört … Gewiß, du hast mir nichts Neues gesagt. Und doch, es ist seltsam, irgendwie habe ich heute zum erstenmal in meinem liederlichen Leben diese Frage mit offenen Augen betrachtet. Ich frage dich, was ist denn nun eigentlich die Prostitution? Was? Ein irrer Wahn der großen Städte oder eine ewige historische Erscheinung? Wird es sie einmal nicht mehr geben? Oder stirbt sie nur aus, wenn die ganze Menschheit stirbt? Wer kann mir darauf antworten?«
Platonow sah ihn unverwandt an, wie üblich mit leicht zusammengekniffenen Augen. Ihn interessierte, was eigentlich sich hinter Lichonins Worten verbarg und ihn so quälte.
»Wann es sie nicht mehr geben wird – das kann dir keiner sagen. Vielleicht dann, wenn die schönen Utopien der Sozialisten und Anarchisten Wirklichkeit werden, wenn die Erde allen und niemandem gehört, wenn die Liebe absolut frei sein wird, nur noch ihren eigenen grenzenlosen Sehnsüchten unterworfen, und wenn die Menschheit zu einer glücklichen Familie zusammenwächst, wo der Unterschied zwischen Mein und Dein wegfällt, wenn wir das Paradies auf Erden haben und der Mensch wieder nackt, selig und unschuldig ist. Dann vielleicht …«
»Aber jetzt? Jetzt?« fragte Lichonin mit wachsender Erregung. »Sollen wir die Hände in den Schoß legen und zusehen? Mein Name ist Hase? Sollen wir sie dulden wie ein unvermeidliches Übel? Uns abfinden, drauf pfeifen? Sie segnen?«
»Dieses Übel ist nicht unvermeidlich, sondern unbezwingbar. Aber kann dir das nicht gleich sein?« fragte Platonow mit kühlem Erstaunen. »Du bist doch Anarchist?«
»Was bin ich schon für ein Anarchist! Nun ja, ich bin Anarchist, weil mein Verstand mich, wenn ich über das Leben nachdenke, immer zu anarchistischen Grundsätzen führt. Theoretisch denke ich so: Sollen die Menschen einander schlagen, betrügen und kahlscheren wie eine Herde Schafe – nur zu!, Gewalt gebiert früher oder später den Zorn. Sollen sie Kinder vergewaltigen, sollen sie die schöpferischen Ideen mit Füßen treten, soll es Sklaverei und Prostitution geben, sollen sie stehlen, einander verhöhnen, Blut vergießen … Nur zu! Je schlimmer, desto besser, desto näher ist das Ende. Es gibt ein Gesetz, denke ich, das gilt gleichermaßen für unbelebte Dinge wie auch für das ganze gewaltige, millionenfache und langewährende menschliche Leben: Druck erzeugt Gegendruck. Je schlimmer, desto besser. Soll die Menschheit ruhig immer mehr Bosheit und Rachgier anstauen, wachsen soll es und reifen wie ein ungeheures Geschwür – ein Geschwür, so groß wie der ganze Erdball. Eines Tages muß es doch platzen! Und mag das auch Schrecken und unerträglichen Schmerz mit sich bringen. Mag die ganze Welt in Fäulnis versinken. Aber die Menschheit – entweder ertrinkt sie darin und geht unter, oder sie übersteht es und wird wiedergeboren zu einem neuen, herrlichen Leben.«
Lichonin trank gierig eine Tasse kalten schwarzen Kaffee und fuhr hitzig fort: »Ja. So theoretisiere ich, und viele andere auch, während wir in unseren Stuben bei Tee und Wurstbrötchen sitzen, wobei der Wert jedes einzelnen Menschenlebens eine unendlich kleine Zahl in der mathematischen Formel darstellt. Aber dann sehe ich, wie jemand ein Kind mißhandelt, und das Blut steigt mir zu Kopf vor Wut. Und wenn ich die mühevolle Arbeit eines Bauern oder Arbeiters betrachte, dann werde ich ganz hysterisch vor Scham über meine algebraischen Berechnungen. Es gibt – zum Teufel! –, es gibt im Menschen etwas Verqueres, ganz und gar Unlogisches, aber das ist in diesem Fall stärker als der menschliche Verstand. So auch heute … Warum fühle ich mich jetzt so, als hätte ich einen Schlafenden bestohlen oder ein dreijähriges Kind betrogen oder einen Gefesselten
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