Das sündige Viertel
ich mich ganz in der Macht eines Genies. Wie wunderbar sich unsere Stimmen vereinigten, was war das für eine zauberhafte Harmonie! Ach! Diesen Eindruck kann man nicht beschreiben. Wahrscheinlich gibt es das nur einmal im Leben. Die Rolle schrieb vor, daß ich weinen mußte, und ich weinte echte, wirkliche Tränen. Und als er nach gefallenem Vorhang zu mir trat und mir mit seiner großen warmen Hand übers Haar strich und mit seinem bezaubernd lichten Lächeln sagte: ›Herrlich! Zum erstenmal im Leben habe ich so gesungen …‹, da habe ich – und ich bin ein sehr stolzer Mensch! –, habe ich ihm die Hand geküßt. Und immer noch standen mir Tränen in den Augen …«
»Und drittens?« fragte die Baronesse, und in ihren Augen glitzerten böse Eifersuchtsfünkchen.
»Ach, drittens«, erwiderte die Künstlerin betrübt. »Das dritte Erlebnis ist denkbar banal. In der vorjährigen Saison lebte ich in Nizza und sah einmal auf einer Freilichtbühne in Fréjus die Oper ›Carmen‹ mit Cécile Quetain, die jetzt«, die Künstlerin bekreuzigte sich inbrünstig, »gestorben ist … ich weiß wirklich nicht, ob zu ihrem Glück oder Unglück.«
Auf einmal, von einem Augenblick zum anderen, füllten sich ihre reizenden Augen mit Tränen und erglänzten in zauberhaftem grünem Licht, so wie an warmen Sommerabenden der Abendstern leuchtet. Sie wandte ihr Gesicht zur Bühne, und eine Zeitlang krampften sich ihre langen nervösen Finger ins Polster der Logenbrüstung. Doch als sie sich wieder ihren Begleitern zuwandte, waren die Augen bereits trocken, und auf den rätselvollen, lasterhaften und hochmütigen Lippen schimmerte ein ungezwungenes Lächeln.
Da fragte Rjasanow sie höflich, mit sanfter, absichtlich gelassener Stimme: »Aber, Jelena Viktorowna, da ist doch Ihr gewaltiger Ruhm, Ihre Verehrer, das Toben der Menge, die Blumen, der Luxus … Und schließlich die Begeisterung, die Sie bei Ihrem Publikum auslösen. Kann nicht einmal das Ihre, Nerven kitzeln?«
»Nein, Rjasanow«, antwortete sie mit müder Stimme. »Sie wissen genauso gut wie ich, was das wert ist. Ein dreister Interviewer, der für seine Bekannten Freikarten braucht und außerdem noch fünfundzwanzig Rubel in einem Kuvert. Gymnasiasten, Gymnasiastinnen, Studenten und höhere Töchter, die um Autogrammfotos betteln. Ein alter Tölpel im Generalsrang, der bei meiner Arie laut mitsingt. Das ewige Getuschel hinterm Rücken, wenn man vorbeigeht: ›Das ist sie, na die, die Berühmte!‹ Anonyme Briefe, die Dreistigkeiten hinter den Kulissen … ach, alles läßt sich gar nicht aufzählen! Sie selbst werden doch gewiß auch oft genug von Gerichtspsychopathinnen belagert?«
»Ja«, sagte Rjasanow fest.
»Nun also. Und jetzt denken Sie sich zu all dem noch das Schlimmste hinzu: daß mich nämlich jedesmal nach dem Empfinden echter Inspiration sogleich quälend das Bewußtsein befällt, mich vor den Menschen zu verstellen und Fratzen zu schneiden … Und was ist mit der Angst vor dem Erfolg einer Rivalin? Und mit der ewigen Furcht, die Stimme zu verlieren, durch Überanstrengung oder Erkältung? Und die ewigen Scherereien mit den Stimmbändern? Nein, wirklich, die Berühmtheit ist eine schwere Bürde.«
»Aber der Künstlerruhm?« widersprach der Advokat. »Die Macht des Genies! Das ist doch eine echte moralische Macht, die jegliche Königsmacht übertrifft.«
»Ja, ja, gewiß, Sie haben recht, mein Lieber. Aber Ruhm und Ansehen sind nur aus der Ferne süß, solange man bloß von ihnen träumt. Doch wenn man sie erlangt hat, spürt man einzig ihre Dornen. Und wie quälend empfindet man jede winzige Einbuße davon. Und noch etwas vergaß ich zu sagen. Wir Künstler leisten ja Schwerstarbeit. Frühmorgens üben, tagsüber Probe, und dann reicht die Zeit kaum fürs Essen, schon geht es zur Vorstellung. Mit knapper Müh und Not ergattert man sich mal ein Stündchen, um zu lesen oder sich zu amüsieren, wie wir es jetzt tun. Und was ist das schon für ein Amüsement, ganz und gar mittelmäßig …«
Verächtlich und müde winkte sie mit den Fingern ihrer auf der Brüstung liegenden Hand ab.
Wolodja Tschaplinski, den dieses Gespräch aufregte, fragte plötzlich: »Nun, so sagen Sie doch, Jelena Viktorowna, was möchten Sie denn gern, was würde Ihrer Phantasie genügen und Ihre Tristesse verscheuchen?«
Sie sah ihn mit ihren rätselhaften Augen an und erwiderte leise, beinahe ein wenig verschämt: »Früher lebten die Menschen unbeschwerter und kannten keine
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