Das sündige Viertel
Vorurteile. Damals, scheint mir, wäre ich recht am Platze gewesen und hätte aus dem vollen gelebt. O altes Rom!«
Niemand verstand sie, außer Rjasanow, der, ohne sie anzusehen, mit seiner samtenen Schauspielerstimme langsam den allen bekannten klassischen lateinischen Satz zitierte: »Ave, Caesar, morituri te salutant!« [12]
»Genau! Ich mag Sie sehr, Rjasanow, weil Sie ein kluger Kopf sind. Sie fangen jeden Gedanken im Fluge auf, obwohl ich sagen muß, daß das keine besonders große Geistesleistung ist. Und in der Tat, zwei Menschen begegnen sich, gestern noch Freunde, Gesprächspartner, Tischgenossen, und heute muß einer von ihnen sterben. Verstehen Sie, für immer aus dem Leben scheiden. Aber sie hegen weder Zorn noch Furcht. Das ist das herrlichste Schauspiel, das ich mir vorstellen kann.«
»Wie grausam du bist«, sagte die Baronesse nachdenklich.
»Ja, da ist nichts zu machen! Meine Vorfahren waren Ritter und Räuber. Aber sollten wir jetzt nicht lieber gehen, Herrschaften?«
Sie verließen alle vier den Garten. Wolodja Tschaplinski gab Weisung, sein Automobil herbeizurufen. Jelena Viktorowna stützte sich auf seinen Arm. Und plötzlich fragte sie: »Sagen Sie, Wolodja, wohin fahren Sie normalerweise, wenn Sie sich von sogenannten anständigen Frauen verabschiedet haben?«
Wolodja druckste. Doch er wußte genau, daß er die Rowinskaja nicht belügen durfte.
»Hmmm … Ich fürchte, Ihr Ohr zu verletzen … Hmm … Zu Zigeunern beispielsweise … in Nachtkabaretts …«
»Und weiter? Noch schlimmer?«
»Wirklich, Sie bringen mich in eine peinliche Lage. Seit ich in Sie so wahnsinnig verliebt bin …«
»Lassen Sie die Romantik!«
»Nun, wie soll ich sagen …«, stammelte Wolodja und spürte, daß er nicht nur im Gesicht, sondern am ganzen Körper errötete, »nun ja, zu Frauen natürlich. Jetzt kommt das freilich bei mir persönlich nicht vor.«
Die Rowinskaja preßte Tschaplinskis Arm boshaft an sich.
»Ins Freudenhaus?«
Wolodja antwortete nicht. Da sagte sie: »Nun denn, so fahren Sie uns jetzt mit Ihrem Automobil dorthin und machen Sie uns mit diesem Milieu bekannt, das mir fremd ist. Aber bedenken Sie, daß ich mich auf Sie als Beschützer verlassen werde.«
Die anderen beiden stimmten gewiß nur ungern zu, aber es war ganz unmöglich, sich Jelena Viktorowna zu widersetzen. Sie tat immer alles, was sie wollte. Und außerdem wußten alle vom Hörensagen, daß in Petersburg mondäne Damen und sogar junge Mädchen, wenn sie ausgingen, sich aus lauter Snobismus noch viel Schlimmeres erlaubten als das, was die Rowinskaja vorschlug.
7
Während der Fahrt zur Kutschergasse sagte die Rowinskaja zu Wolodja: »Führen Sie mich zuerst in das luxuriöseste Etablissement, dann in ein mittelmäßiges und dann in das allerschmutzigste.«
»Teure Jelena Viktorowna«, erwiderte Tschaplinski überschwenglich, »für Sie bin ich alles zu tun bereit. Ungelogen und ohne zu prahlen, ich würde mein Leben geben, wenn Sie es befehlen, ich würde auf einen einzigen Wink von Ihnen meine Karriere und meine Position aufgeben. Aber ich wage nicht, Sie in diese Häuser zu führen. Die russischen Sitten sind grob, manchmal geradezu unmenschlich. Ich fürchte, jemand könnte Sie durch ein hartes, unanständiges Wort kränken oder ein Zufallsgast könnte in Ihrer Gegenwart eine Taktlosigkeit begehen …«
»Mein Gott!« unterbrach ihn die Rowinskaja ungeduldig. »Als ich in London sang, hatte ich viele Verehrer, und es hat mir nichts ausgemacht, in erlesener Gesellschaft die schmutzigsten Spelunken von Whitechapel zu besichtigen. Ich muß sagen, man ist mir dort sehr behutsam und zuvorkommend begegnet. Und ich will Ihnen auch sagen, daß in meiner Begleitung damals zwei englische Aristokraten waren, Lords, beide Sportler, beide physisch und moralisch außergewöhnlich starke Männer, die natürlich eine Frau niemals hätten beleidigen lassen. Apropos, gehören Sie, Wolodja, am Ende zu den Feiglingen?«
Tschaplinski fuhr auf.
»O nein, nein, Jelena Viktorowna. Ich habe Sie nur aus Liebe gewarnt. Doch wenn Sie es befehlen, dann gehe ich, wohin Sie wollen. Nicht nur in dieses zweifelhafte Unternehmen, sondern meinetwegen auch in den Tod.«
Nun fuhren sie schon am luxuriösesten Etablissement des Viertels vor, bei Tröppel. Der Advokat Rjasanow lächelte auf seine ironische Art und sagte: »Alsdann, die Besichtigung der Menagerie beginnt.«
Man führte sie in ein Zimmer mit roten Tapeten, die im Empirestil mit
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