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Das sündige Viertel

Das sündige Viertel

Titel: Das sündige Viertel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Kuprin
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Jugend jetzt viele reine Knaben geben soll. Ich glaub's, obwohl ich selber noch keinem begegnet bin. Alle, die ich gesehen habe, waren geil und gemein und verdorben. Vor gar nicht allzu langer Zeit las ich einen Roman über unser unglückseliges Leben. Da war alles fast genau so, wie ich es jetzt sage.«
     
    Wanda kam zurück. Langsam und vorsichtig setzte sie sich auf Shenjas Bettrand, dorthin, wo der Schatten des Lampenschirmes hinfiel. Auf Grund der tiefverwurzelten, wenn auch unnatürlichen Diskretion, die zum Tode Verurteilten, Sträflingen und Prostituierten eigen ist, wagte niemand zu fragen, wie sie diese anderthalb Stunden verbracht hatte. Auf einmal warf sie fünfundzwanzig Rubel auf den Tisch und sagte: »Bringt mir Weißwein und eine Melone.«
    Sie barg ihr Gesicht in den Armen auf dem Tisch und schluchzte lautlos. Und wieder erlaubte sich niemand, ihr eine Frage zu stellen. Nur Shenka erblaßte vor Zorn und biß sich so heftig auf die Unterlippe, daß eine Reihe weißer Flecken darauf zurückblieb.
    »Ja«, sagte sie, »jetzt kann ich Tamara verstehen. Hörst du, Tamara, ich entschuldige mich bei dir. Ich habe mich oft darüber lustig gemacht, daß du in deinen Dieb Senka verliebt bist. Aber jetzt sage ich, der anständigste von allen Männern ist ein Dieb oder ein Mörder. Er verheimlicht nicht, daß er ein Mädchen liebt, und wenn es sein muß, verübt er für sie ein Verbrechen – Diebstahl oder Mord. Aber die anderen! Alles Lüge, Heuchelei, kleinlicher Betrug, heimliche Lasterhaftigkeit. So ein Schurke hat drei Familien, eine Gattin und fünf Kinder. Die Gouvernante und zwei Kinder im Ausland. Eine erwachsene Tochter aus der ersten Ehe der Frau, und von der hat er ein Kind. Und das wissen alle, alle in der Stadt, außer seinen kleinen Kindern. Und sogar die ahnen es vielleicht und tuscheln darüber. Und stellt euch vor, er ist eine ehrbare Person, von aller Welt geachtet … Mädels, ich glaube, wir hatten noch nie Gelegenheit, uns offen auszusprechen, aber jetzt will ich euch sagen, daß mich, als ich zehneinhalb Jahre alt war, meine eigene Mutter in der Stadt Shitomir an einen Doktor Tarabukin verkauft hat. Ich habe ihm die Hände geküßt, habe ihn angefleht, mich zu verschonen, geschrien habe ich: ›Ich bin doch noch klein!‹ Aber er hat nur geantwortet: ›Macht nichts, macht nichts: du wächst ja noch.‹ Na, und dann das Übliche: Schmerz, Ekel, Abscheulichkeit … Und er hat das später als Anekdote kursieren lassen. Den verzweifelten Aufschrei meiner Seele.«
    »Nun, wenn wir schon reden, dann wollen wir alles aussprechen«, sagte Soja auf einmal ganz ruhig und lächelte zerstreut und traurig. »Mir hat ein Lehrer von der Volksschule die Unschuld geraubt, ein gewisser Iwan Petrowitsch Sus. Er hat mich einfach in seine Wohnung bestellt, und seine Frau ging unterdessen zum Markt, ein Ferkel kaufen – es war kurz vor Weihnachten. Er hat mir Konfekt angeboten, und dann hat er gesagt, ich hätte die Wahl: entweder müßte ich ihm in allem willfährig sein, oder er würde mich sofort wegen schlechten Betragens aus der Schule werfen. Und ihr wißt ja selbst, Mädels, welche Angst wir vor den Lehrern haben. Hier sind sie uns nicht gefährlich, weil wir mit ihnen machen, was wir wollen, aber damals! Damals war für uns ein Lehrer doch mehr als der Zar oder als Gott.«
    »Bei mir war's ein Student. Der war Hauslehrer bei den jungen Herren. Dort, wo ich in Dienst stand …«
    »Nein, aber ich …«, rief Njura, doch plötzlich, als sie sich zur Tür umwandte, blieb ihr der Mund offenstehen. Shenka blickte in dieselbe Richtung und schlug die Hände zusammen. In der Tür stand Ljubka, abgemagert, mit schwarzen Ringen unter den Augen, und tastete wie eine Schlafwandlerin mit der Hand nach der Klinke, als suche sie eine Stütze.
    »Ljubka, Dummchen, was ist mit dir?« rief Shenka laut.
    »Was schon: rausgeschmissen hat er mich.«
    Niemand sprach ein Wort. Shenka bedeckte die Augen mit den Händen und atmete heftig, es war zu sehen, wie unter der Haut ihre angespannten Wangenmuskeln spielten.
    »Shenetschka, du bist jetzt meine einzige Hoffnung«, sagte Ljubka in tiefster Hilflosigkeit. »Dich achten alle. Bitte, Liebste, sprich mit Anna Markowna oder mit Simeon. Sie sollen mich wieder aufnehmen.«
    Shenka richtete sich auf dem Bett auf, sah Ljubka mit trockenen, flammenden und doch gleichsam weinenden Augen an und fragte kurz: »Hast du heute schon was gegessen?«
    »Nein. Weder gestern noch heute.

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