Das sündige Viertel
armes leidgeprüftes Herz alle Wunden und Kränkungen vergessen zu lassen, die das Leben ihm zugefügt hat! Ich werde dir Vater und Bruder sein! Ich werde jeden deiner Schritte behüten! Und wenn du für jemanden wahrhaft reine und heilige Liebe empfinden lernst, dann werde ich den Tag und die Stunde preisen, da ich dich aus dieser Danteschen Hölle geholt habe!«
Während dieser feurigen Tirade begann der alte Kutscher vielsagend, wenn auch lautlos, vor sich hin zu lachen, und von diesem lautlosen Lachen bebte sein Rücken. Alte Droschkenkutscher bekommen sehr viel zu hören, denn der vorn sitzende Kutscher versteht alles sehr gut, womit die Fahrgäste, wenn sie sich unterhalten, gar nicht rechnen, und so wissen alte Droschkenkutscher über vieles Bescheid, was sich zwischen den Menschen abspielt. Wer weiß, vielleicht hatte er schon des öfteren noch verdrehtere, noch pathetischere Reden mit angehört?
Ljubka glaubte, Lichonin sei böse auf sie oder schon im vorhinein eifersüchtig auf einen eingebildeten Rivalen. Allzu laut und erregt hatte er deklamiert. Sie wurde hellwach, wandte ihr Gesicht mit den weit aufgerissenen, ungläubigen und zugleich demütigen Augen Lichonin zu und berührte mit den Fingern leicht seine rechte Hand, die auf ihrer Taille lag.
»Seien Sie nicht böse, Lieber. Ich tausche Sie niemals gegen einen anderen ein. Ehrenwort, wirklich! Niemals, Ehrenwort! Als ob ich nicht spüren würde, daß Sie für mich sorgen wollen! Denken Sie etwa, ich verstehe das nicht? Sie sind ja so sympathisch und gut und jung! Ja, wenn Sie ein häßlicher Alter wären …«
»Ach! Du verstehst überhaupt nichts!« rief Lichonin und fing abermals an, ihr in tönenden Phrasen von der Gleichberechtigung der Frau zu sprechen, von der Heiligkeit der Arbeit, von menschlicher Gerechtigkeit, Freiheit und vom Kampf gegen das herrschende Böse.
Von all seinen Worten verstand Ljubka kein einziges. Dennoch fühlte sie sich irgendwie schuldig, sie erschauerte, wurde traurig, ließ den Kopf sinken und schwieg. Es fehlte nicht viel, so hätte sie womöglich mitten auf der Straße losgeweint, doch zum Glück fuhren sie nun an dem Haus vor, wo Lichonin wohnte.
»So, wir sind zu Hause«, sagte der Student. »Halt, Kutscher!«
Nachdem Lichonin bezahlt hatte, konnte er es sich nicht verkneifen, die Hand theatralisch auszustrecken und pathetisch zu deklamieren:
»Mein Haus
Steht dir stets offen! Geh in Ehren
Als Herrin darin ein und aus!« [15]
Und abermals huschte über das braune Greisengesicht des Kutschers ein sonderbares prophetisches Lächeln.
10
Das Zimmer, in dem Lichonin wohnte, befand sich eine halbe Etage über dem fünften Stockwerk. Halbe Etage deshalb, weil es solche fünf-, sechs- oder siebengeschossigen, für die Besitzer recht einträglichen Häuser gibt, in denen viele Menschen eng und billig leben und auf denen oben noch ärmliche verwanzte Buden aus Dachblech aufgesetzt sind, eine Art Mansarden oder besser Starenkästen, in denen es im Winter furchtbar kalt und im Sommer tropisch heiß ist. Ljubka erklomm mühselig die Stiege. Gleich, schien ihr, noch zwei Schritte, und sie würde auf die Stufen fallen und rettungslos einschlafen. Lichonin aber sprach indessen: »Meine Teure! Ich sehe, Sie sind müde. Aber das macht nichts. Stützen Sie sich auf mich! Wir steigen hinauf. Immer höher und höher! Ist das nicht ein Symbol für alles menschliche Streben? Freundin, Schwester, stütze dich auf meinen Arm!«
Da wurde der armen Ljubka noch elender zumute. Sie konnte selbst kaum steigen, und nun mußte sie auch noch Lichonin ziehen, der ganz schwer geworden war. Das allein wäre nicht so schlimm gewesen, aber seine Beredsamkeit ging ihr allmählich auf die Nerven. So martert einen zuweilen das unaufhörliche Weinen eines Säuglings, monoton wie Zahnschmerz, oder das penetrante Gezwitscher eines Kanarienvogels oder wenn im Zimmer nebenan jemand andauernd falsch pfeift.
Endlich erreichten sie Lichonins Zimmertür. Ein Schlüssel war nicht da. Normalerweise wurde die Tür ja auch nie abgeschlossen. Lichonin stieß sie auf, und sie betraten das Zimmer. Drinnen war es dunkel, denn die Vorhänge waren geschlossen. Es roch nach Mäusen, nach Petroleum, nach dem Borstsch vom Vortag, nach alter Bettwäsche und abgestandenem Tabakrauch. Im Halbdunkel hörte man jemanden, der nicht zu sehen war, dröhnend und ungleichmäßig schnarchen.
Lichonin zog ein wenig die Gardine zurück. Die übliche Einrichtung eines armen
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