Das sündige Viertel
ledigen Studenten: durchgelegenes, ungemachtes Bett mit zerknüllter Decke, wackliger Tisch und darauf ein Kerzenhalter ohne Kerze, ein paar Bücher auf Fußboden und Tisch, überall Zigarettenstummel, und gegenüber vom Bett, an der anderen Wand, ein uraltes Sofa, auf dem jetzt ein schwarzgelockter und schwarzbärtiger junger Mann mit weit offenem Munde schlief und schnarchte. Sein Hemd stand offen, man sah die Brust und schwarzes Haar darauf, so dicht und lockig, wie es nur Karatschajew-Lämmer haben.
»Nisheradse! He, Nisheradse, aufstehen!« rief Lichonin und stieß den Schlafenden an. »Fürst!«
»Mmm …«
»Steh auf, sag ich, kaukasischer Esel, ossetischer Idiot!«
»Mmm …«
»Verflucht sei dein Geschlecht von den Urvätern bis zu den Nachkommen! Vertrieben sollen sie werden von den Höhen des prächtigen Kaukasus! Nie mehr sehen sollen sie das gelobte Georgien! Steh auf, Kerl, steh auf, arabisches Dromedar!«
Doch plötzlich, völlig unerwartet für Lichonin, mischte sich Ljubka ein. Sie griff nach seiner Hand und sagte schüchtern: »Lieber, warum sollen wir ihn quälen? Vielleicht will er schlafen, vielleicht ist er müde? Lassen Sie ihn schlafen. Ich fahre lieber wieder nach Hause. Geben Sie mir einen halben Rubel für die Droschke? Morgen kommen Sie wieder zu mir. Ja, Schätzchen?«
Lichonin war verwirrt. So seltsam berührte es ihn, daß dieses schweigsame, schlaftrunkene Mädchen sich einmischte. Er begriff natürlich nicht, daß aus ihr ein instinktives, unbewußtes Mitgefühl für einen Unausgeschlafenen sprach oder vielleicht auch die professionelle Achtung vor dem Schlaf anderer Menschen. Doch sein Erstaunen währte nur kurz. Dann war er gekränkt. Er hob die Hand des Liegenden an, die auf den Fußboden herabhing und zwischen deren Fingern noch eine erloschene Zigarette steckte, schüttelte sie derb und sagte ernst, beinahe streng: »Hör mal, Nisheradse, ich bitte dich allen Ernstes. Versteh doch, zum Teufel, daß ich nicht allein bin, sondern eine Frau mitbringe. Du Rindvieh!«
Es war wie ein Wunder: Der Liegende sprang plötzlich auf, als hätte sich unter ihm eine außergewöhnlich starke Feder mit einem Schlag entspannt. Er setzte sich aufs Sofa, rieb sich flink mit den Händen Augen, Stirn und Schläfen, erblickte die Frau, wurde sofort verlegen und murmelte, während er eilig sein Russenhemd zuknöpfte: »Du bist das, Lichonin? Ich habe hier auf dich gewartet, immerzu, und bin eingeschlafen. Sag doch bitte der fremden Kommilitonin, sie möchte sich einen Moment umdrehen.«
Hastig zog er seine graue Studentenjacke an und fuhr sich mit beiden Händen durch die dichten schwarzen Locken. Ljubka, mit der allen Frauen eigenen Koketterie, in welchem Alter und in welcher Situation sie auch seien, Ljubka ging zu der Spiegelscherbe, die an der Wand hing, um ihre Frisur zu richten. Nisheradse blickte fragend aus den Augenwinkeln von ihr zu Lichonin.
»Alles in Ordnung. Mach dir nichts draus«, erwiderte dieser laut. »Komm, wir gehen mal kurz raus. Dann erzähle ich dir alles. Entschuldigen Sie, Ljubotschka, nur einen Augenblick. Ich komme sofort wieder, zeige Ihnen alles, und dann verflüchtige ich mich.«
»Machen Sie sich doch keine Umstände«, widersprach Ljubka, »das Sofa hier ist gut genug für mich. Und Sie können sich ruhig ins Bett legen.«
»Nein, mein Engel, so ist es nicht gedacht! Ich habe hier einen Kollegen. Bei dem werde ich schlafen. Ich bin gleich zurück.«
Die beiden Studenten gingen hinaus auf den Flur.
»Was soll dieser Traum bedeuten?« fragte Nisheradse und riß seine orientalischen Augen, die ein wenig wie Hammelaugen wirkten, auf. »Woher dieses reizende Kind, dieser Kommilitone im Rock?«
Lichonin wiegte vielsagend den Kopf und zog eine Grimasse. Jetzt, nachdem die Fahrt, die frische Luft, der Morgen und seine gewohnte Alltagsumgebung ihn nahezu völlig ernüchtert hatten, beschlich ihn ein dumpfes Gefühl, seine übereilte Tat sei peinlich und unnötig gewesen, und gleichzeitig überkam ihn etwas wie Ärger, sowohl auf sich selbst als auch auf die Frau, die er mitgebracht hatte. Er ahnte schon voraus, wie schwierig das Zusammenleben werden würde, eine Menge Unannehmlichkeiten und Geldausgaben sah er auf sich zukommen, dazu das zweideutige Lächeln oder auch einfach die unumwundenen Fragen seiner Freunde, und schließlich eine ernsthafte Störung während seines Staatsexamens. Doch kaum hatte er das Gespräch mit Nisheradse begonnen, schämte er sich
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