Das sündige Viertel
Nichts.«
»Hör mal, Shenetschka«, fragte Wanda leise, »wenn ich ihr nun von meinem Wein gebe? Und Verka läuft unterdessen in die Küche und holt Fleisch. Ja?«
»Mach nur, mach. Freilich, das ist gut. Aber seht nur, Mädels, sie ist ja ganz durchnäßt. Ach, was bist du für ein Dummchen! Na los! Zieh dich aus! Blonde Manka, oder du, Tamarotschka, gebt ihr trockene Hosen, warme Strümpfe und Schuhe. So, und jetzt«, wandte sie sich an Ljubka, »erzähl uns alles, was mit dir passiert ist, du kleine Idiotin!«
9
An jenem frühen Morgen, als Lichonin so plötzlich, und vielleicht sogar für sich selbst unerwartet, Ljubka aus Anna Markownas vergnüglichem Etablissement entführte, war hoher Sommer. Die Bäume prangten noch grün, doch in der Luft und im Geruch von Laub und Gras spürte man schon ganz leis, wie von fern, den melancholischen und zugleich betörenden Hauch des nahenden Herbstes. Erstaunt betrachtete der Student die Bäume, die so rein, so unschuldig und still dastanden, als hätte der Herrgott sie über Nacht, unbemerkt für die Menschen, hierhergesetzt, und die Bäume selbst schienen sich erstaunt umzusehen, schienen das stille blaue Wasser zu betrachten, das in Pfützen und Kanälen und unter der Holzbrücke, die den flachen Fluß überspannte, wie träumend ruhte, schienen zum hohen blanken Himmel aufzublicken, der soeben erwacht war und der aufflammenden Sonne ein schlaftrunkenes, rosiges, träges, glückliches Lächeln entgegensandte.
Das Herz des Studenten weitete sich und erbebte – vor der Schönheit dieses gesegneten Morgens, vor Daseinsfreude und von der wohltuenden Luft, die seine Lungen nach der schlaflos im verqualmten Raum verbrachten Nacht erquickte. Noch mehr jedoch rührte ihn die Schönheit und Erhabenheit seiner eigenen Tat.
Ja, er hatte gehandelt wie ein Mensch, wie ein wahrer Mensch, im höchsten Sinne dieses Wortes! Er bereute auch jetzt nicht, was er getan hatte. Sie hatten gut reden (wer das sein sollte, »sie«, das wußte Lichonin selbst nicht so recht), sie hatten gut reden über die Schrecken der Prostitution, während sie in Gesellschaft reiner und gebildeter junger Mädchen bei Tee und Wurstbrötchen saßen. Aber hatte jemals einer seiner Kommilitonen einen wirklichen Schritt getan, um eine Frau vor dem Untergang zu retten? Bewahre! Und dann gab es auch noch welche, die zu so einer Sonetschka Marmeladowa kamen, das Blaue vom Himmel herunterschwatzten, ihr Schreckensbilder vorgaukelten, in sie drangen, bis sie in Tränen ausbrach, und dann weinten sie selbst los und fingen an zu trösten, sie zu umarmen, ihren Kopf zu streicheln, sie zu küssen, zuerst auf die Wange, dann auf die Lippen, und dann – na, das weiß man! Pfui! Aber bei ihm, Lichonin, stimmten Wort und Tat immer überein.
Er umfaßte Ljubka und sah sie mit freundlichen, beinahe verliebten Augen an, obwohl er sich sofort sagte, er betrachte sie wie ein Vater oder Bruder.
Ljubka war entsetzlich müde, die Augen wollten ihr zufallen, mühsam riß sie sie auf, um nicht einzuschlafen, und auf ihren Lippen lag das gleiche müde, naive Kinderlächeln, das Lichonin schon vorher im Chambre séparée bemerkt hatte. Aus einem ihrer Mundwinkel rann ein wenig Speichel.
»Ljuba, meine Teure! Liebe, vielgeprüfte Frau! Sieh nur, wie schön es ringsum ist! Mein Gott! Es sind nun schon fünf Jahre, daß ich den Sonnenaufgang nicht mehr richtig gesehen habe. Mal Kartenspiel, mal Zecherei, dann wieder eilig zur Universität. Schau, mein Herz, dort leuchtet das Morgenrot. Bald kommt die Sonne! Das ist dein Morgenrot, Ljubotschka! Jetzt fängt dein neues Leben an. Du wirst dich mutig auf meinen starken Arm stützen. Ich führe dich auf den Weg ehrlicher Arbeit, auf den Weg mutigen, offenen Lebenskampfes!«
Ljubka sah ihn verstohlen an. Oje, er ist noch berauscht, dachte sie zärtlich. Aber macht nichts – er ist ein guter Mensch. Nur nicht sehr hübsch. Sie lächelte schläfrig und sagte im Ton launischen Vorwurfs: »Jaa! Führen Sie mich auch nicht an der Nase herum? Ihr Männer seid alle so. Erst wollt ihr uns rumkriegen und euren Spaß haben, und dann ist die Aufmerksamkeit futsch!«
»Ich? Oh! Von wegen!« rief Lichonin heftig aus und schlug sich sogar mit der freien Hand an die Brust. »Da kennst du mich schlecht! Ich bin viel zu ehrlich, um ein wehrloses Mädchen zu betrügen. Nein! Ich werde alle meine Kräfte und meine ganze Seele einsetzen, um deinen Verstand zu bilden, deinen Horizont zu erweitern, dein
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