Das sündige Viertel
mein Freund! Hier gibt es eine von zwei Möglichkeiten, und beide mit ein und demselben Resultat. Entweder du läßt dich mit ihr ein und wirfst sie nach fünf Monaten hinaus, und sie kehrt ins Bordell zurück, oder sie geht auf den Strich. Das ist Fakt! Oder du läßt dich nicht mit ihr ein, sondern drängst sie zu einer Hand- oder Kopfarbeit und gibst dir Mühe, ihren unwissenden dunklen Verstand zu entwickeln, dann läuft sie dir vor lauter Langeweile davon und ist im Nu wieder auf dem Strich oder im Bordell. Das ist auch Fakt! Übrigens gibt es noch eine dritte Kombination. Du kümmerst dich um sie wie ein Bruder, wie ein Ritter Lanzelot, und sie verliebt sich heimlich in einen anderen. Glaub mir, mein Freund: eine Frau, solange sie Frau ist, bleibt immer eine Frau. Und die kann ohne Liebe nicht leben. Dann läuft sie eben von dir zu einem anderen. Der andere spielt ein bißchen mit ihrem Körper, und nach drei Monaten schickt er sie entweder auf die Straße oder ins Bordell.«
Lichonin seufzte Schwer. Im tiefsten Innern, nicht in seinem Verstand, sondern in den geheimsten, kaum zugänglichen Tiefen seines Bewußtseins regte sich etwas, was dem Gedanken ähnelte, Nisheradse habe recht. Doch er nahm sich rasch zusammen, schüttelte den Kopf, streckte dem Fürsten die Hand hin und sprach feierlich: »Ich verspreche dir, daß du in einem halben Jahr deine Worte zurücknimmst und mir zur Entschuldigung ein Dutzend Flaschen kachetischen Wein hinstellst, du Vogelscheuche aus Jerewan.«
»Topp! Gilt!« Der Fürst holte aus und schlug in Lichonins Hand ein. »Mit Vergnügen. Aber wenn ich recht behalte, dann du.«
»Dann ich. Aber nun leb wohl, Fürst. Wo übernachtest du?«
»Gleich hier, auf demselben Flur, bei Solowjow. Und du, als mittelalterlicher Ritter, wirst natürlich ein zweischneidiges Schwert zwischen dich und die schöne Rosamunde legen? Ja?«
»Unsinn. Ich wollte selber bei Solowjow schlafen. Aber nun schlendre ich ein bißchen durch die Straßen und sehe zu, wo ich unterkomme: bei Saizewitsch oder bei Strump. Leb wohl, Fürst!«
»Warte, warte!« rief Nisheradse, als er schon einige Schritte gegangen war. »Die Hauptsache hätte ich fast vergessen: Parzan ist geschnappt worden!«
»Ach?« wunderte sich Lichonin und mußte im selben Moment lange und tief gähnen.
»Ja. Aber nichts Schlimmes: hat nur Broschüren aufbewahrt. Er sitzt nicht länger als ein Jahr.«
»Na, er ist ein wackerer Bursche, er steht's durch.«
»Stimmt«, bestätigte der Fürst.
»Leb wohl!«
»Auf Wiedersehen, Ritter Grünwaldus.«
»Auf Wiedersehen, du Kabardinerhengst.«
11
Lichonin blieb allein. Im halbdunklen Flur roch es nach Petroleum von der verglimmenden blechernen Lampe und nach schlechtem Tabak. Das Tageslicht schimmerte nur matt von oben herein, durch zwei kleine gerahmte Glasfensterchen, die über dem Flur ins Dach eingelassen waren.
Lichonin befand sich in jener zugleich matten und aufgeputschten Stimmung, die jedem, der lange nicht zum Schlafen kam, bekannt ist. Er war gewissermaßen aus dem Rahmen des alltäglichen menschlichen Lebens herausgetreten, und dieses Leben schien ihm fern und bedeutungslos, doch andererseits hatten seine Gedanken und Gefühle eine gelassene Klarheit und gleichmütige Exaktheit angenommen, und in diesem kristallenen Nirwana lag ein eigentümlich monotoner und trister Reiz.
Er stand neben seiner Tür, an die Wand gelehnt, und er spürte, sah und hörte deutlich, wie ringsum und unter ihm einige Dutzend Menschen schliefen, wie sie im letzten tiefen Morgenschlaf lagen, mit offenen Mündern, mit gleichmäßigem tiefem Atem, mit matter Blässe auf den vom Schlaf glänzenden Gesichtern, und ein von Kindheit her vertrauter Gedanke ging ihm durch den Kopf – wie schrecklich schlafende Menschen sind, schrecklicher als Tote.
Dann fiel ihm Ljubka ein. Sein tief verborgenes, unterirdisches Ich wisperte ihm flink zu, er müßte ins Zimmer gehen und nachsehen, ob das Mädchen sich wohl fühle, vielleicht auch ein paar Vorbereitungen fürs morgendliche Teetrinken treffen, doch er selbst redete sich ein, daß er an nichts dergleichen denke, und ging auf die Straße hinaus.
Er ging so dahin und betrachtete alles, was ihm vor die Augen kam, mit einer für ihn selbst ungewohnten trägen und scharfen Neugier, und jedes Detail erschien ihm derart plastisch, als ertaste er es mit den Fingern … Da ging eine Frau vorüber. Auf ihren Schultern lag ein Tragejoch, an dessen beiden Enden hing je ein
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