Das sündige Viertel
großer Eimer voller Milch; ihr Gesicht war nicht mehr jung, mit einem Netz von Fältchen an den Schläfen und mit zwei tiefen Furchen von den Nasenflügeln zu den Mundwinkeln, doch ihre Wangen waren rot und fühlten sich gewiß fest an, und in ihren braunen Augen lag ein keckes, spöttisches Ukrainerlächeln. Unterm Schwanken des schweren Tragejochs und von ihrem gleichmäßig fließenden Schritt wiegten sich ihre Hüften rhythmisch nach links und nach rechts, und in dieser wellenartigen Bewegung lag eine derbe, sinnliche Schönheit.
Eine wackere Frau, und bestimmt hat sie ein buntes Leben hinter sich, dachte Lichonin. Und plötzlich, für sich selbst unerwartet, spürte und begehrte er heftig diese völlig fremde Frau, die weder schön noch jung war, vermutlich auch schmutzig und vulgär, aber dennoch, so schien ihm, vergleichbar einem großen Antonapfel, Fallobst zwar, ein bißchen wurmstichig, ein bißchen überlagert, doch immer noch von praller Farbe und mit saftigem Weinaroma.
Ein leerer schwarzer Leichenwagen überholte ihn; zwei Pferde vorgespannt, zwei hinten angebunden. Die Fackelträger und die Sargträger, am frühen Morgen schon betrunken, mit schäbigen Zylindern über den groben roten Gesichtern, saßen durcheinandergeschüttelt auf ihren Livreen, auf karierten Pferdedecken und auf den Trauerfackeln, und sie grölten mit rauhen, heiseren Stimmen unmelodisch ein Lied. Sie wollen wohl eilig zum Begräbnis, vielleicht haben sie es auch schon hinter sich, dachte Lichonin, ein munteres Völkchen! Auf dem Boulevard hielt er inne und setzte sich auf eine niedrige grün angestrichene Holzbank. Zwei Reihen mächtiger hundertjähriger Kastanien zogen sich hin und verschmolzen in der Ferne zu einem geraden grünen Pfeil. An den Bäumen hingen schon große stachelige Früchte. Auf einmal fiel Lichonin ein, daß er im ganz zeitigen Frühjahr auf demselben Boulevard gesessen hatte, genau an derselben Stelle. Damals war ein stiller, sanfter, purpurfarben-dunstiger Abend gewesen, der lautlos einschlief, wie ein lächelndes erschöpftes Mädchen. Damals waren die mächtigen Kastanien, mit ihrem unten weit ausladenden, nach oben spitz zulaufenden Laubgeäst, über und über mit Blüten besät, die reckten ihre hellen rosigen Spitzen gen Himmel, als hätte jemand versehentlich Weihnachtskerzen auf die Kastanienbäume gesteckt. Und plötzlich empfand Lichonin mit außergewöhnlicher Schärfe – früher oder später lernt jeder Mensch dieses Gefühl kennen –, daß nun schon Früchte reiften, wo damals die rosa Blütenkerzen waren, und daß es noch viele Lenze und viele Blüten geben würde, doch diesen vergangenen konnte ihm nichts und niemand wiedergeben. Während er traurig die dichte Allee hinabschaute, bemerkte er auf einmal, daß es in seinen Augen kribbelte von sentimentalen Tränen.
Er erhob sich und ging weiter, wobei er alles, was ihm begegnete, mit gleichmäßiger gespannter und zugleich gelassener Aufmerksamkeit betrachtete, als sähe er Gottes schöne Welt zum erstenmal. Ein Trupp Maurer ging auf der Straße an ihm vorüber, und sie alle erschienen seinem inneren Auge übertrieben grell und farbig, wie auf der Mattscheibe einer Camera obscura. Da war der Vorarbeiter, mit schiefgerutschtem rotem Bart und strengen blauen Augen; da war ein großer Bursche mit geschwollenem linkem Auge, ein großer dunkelblauer Fleck breitete sich von seiner Stirn zur Wange und von der Nase zur Schläfe; da war ein Jüngelchen mit naivem bäurischem Gesicht, sein Mund, feucht und willenlos, stand offen wie bei einem Vogeljungen; und ein Alter, der sich verspätet hatte, stolperte in komischen Bocksprüngen hinter den anderen her; und ihre mörtelbekleckerte Kleidung, ihre Schürzen, ihr Werkzeug – dies alles zog an Lichonin vorüber wie eine leblose Reihe, wie ein bunter, aber toter Filmstreifen.
Er mußte den Nowo-Kischinjow-Basar überqueren. Ein appetitlicher Geruch nach Gebratenem ließ ihn die Nüstern blähen. Lichonin fiel ein, daß er seit gestern mittag noch nichts gegessen hatte, und sofort verspürte er Hunger. Er bog nach rechts ab, ins Marktgewimmel.
An Hungertagen – und die gab es bei ihm oft – kam er immer hierher auf den Basar und kaufte sich für wenige, mühsam erworbene Groschen Brot und gebratene Wurst. Das war meist im Winter. Die Händlerin, in eine Vielzahl von Kleidungsstücken gehüllt, saß gewöhnlich, um es warm zu haben, auf einem Gefäß mit Kohlen, und vor ihr auf einem Eisenblech
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