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Das sündige Viertel

Das sündige Viertel

Titel: Das sündige Viertel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Kuprin
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revolutionärer Broschüren und Zeitschriften einfach nicht ertrug, de facto fast völlig unwissend auf diesem Gebiet war. Deshalb wurde er auch in Parteiangelegenheiten nicht im geringsten eingeweiht, wenngleich ihm zuweilen Aufträge keineswegs ungefährlicher Art übertragen wurden, deren Sinn man ihm nicht erklärte. Und nicht umsonst verließ man sich auf seine Gewissenhaftigkeit: er erledigte alles flink, exakt, mit kühnem Glauben an die weltweite Bedeutung der Sache, mit sorglosem Lächeln und mit abgrundtiefer Verachtung gegenüber der Möglichkeit, dabei umzukommen. Er verbarg illegale Genossen, bewahrte verbotene Literatur und Flugblätter auf, übermittelte Pässe und Geld. Er besaß viel physische Kraft, Gutmütigkeit und elementare schlichte Herzlichkeit. Von zu Hause, irgendwo tief im Simbirsker oder Ufaer Gouvernement, erhielt er nicht selten Geldsummen, die für einen Studenten recht beträchtlich waren, doch innerhalb von zwei Tagen verausgabte und verschleuderte er sie überallhin mit der Großzügigkeit eines französischen Magnaten des 17. Jahrhunderts und besaß dann selbst im Winter nur noch die Studentenjacke und ein Paar mit eigenen Mitteln restaurierte Stiefel.
    Neben all diesen naiven, rührenden, komischen, erhabenen und liederlichen Eigenschaften des alten russischen Studenten, der allmählich – und wer weiß, ob das gut ist? – zur historischen Erinnerung wird, besaß er noch eine erstaunliche Eigenschaft – er konnte Geld aus dem Boden stampfen und in kleinen Restaurants und Speisewirtschaften Kredit aufnehmen. Alle Angestellten von Leihhaus und Kreditkassen, alle heimlichen und öffentlichen Wucherer, alle Trödler waren mit ihm bestens bekannt.
    Wenn es aus irgendwelchen Gründen nicht anging, zu ihnen Zuflucht zu nehmen, blieb Solowjow dennoch immer auf der Höhe seines Einfallsreichtums. Da er der führende Kopf einer ganzen Truppe verarmter Freunde war und die Last der Verantwortung in diesen Dingen nun einmal trug, konnte es vorkommen, daß er, plötzlich von Inspiration erleuchtet, einem vorübergehenden Tataren, der sein Bündel auf den Schultern trug, von weitem über die Straße ein geheimes Zeichen gab und für ein paar Sekunden mit ihm in der nächsten Toreinfahrt verschwand. Dann kam er schnell zurück, ohne Jacke, nur im offenen, mit einer Schnur umgürteten Hemd, oder winters ohne Mantel, nur im leichten Anzug, oder er trug anstelle der neuen, soeben erst gekauften Mütze ein winziges Jockeymützchen, das sich wie durch ein Wunder auf seinem Scheitel hielt.
    Alle liebten ihn: die Kommilitonen, das Dienstpersonal, die Frauen, die Kinder. Und alle standen auf vertrautem Fuß mit ihm. Besondere Gunst genoß er bei seinen tatarischen Kumpanen, die ihn wahrscheinlich für einen sonderbaren Heiligen hielten. Im Sommer schenkten sie ihm manchmal starken berauschenden Kumyß in großen Fünfundzwanzigliterflaschen, und zum Bairamfest luden sie ihn ein, ein junges Fohlen mit ihnen zu verspeisen. So unglaubhaft es klingen mag, doch in kritischen Augenblicken gab Solowjow den Tataren gewisse Bücher und Broschüren zur Aufbewahrung. Dabei sprach er mit ganz schlichter und bedeutsamer Miene: »Was ich dir hier gebe, ist ein Großes Buch. Es handelt davon, daß Allah mächtig ist und Mohammed sein Prophet, daß es viel Bosheit und Armut auf Erden gibt und daß die Menschen barmherzig und gerecht sein sollen gegeneinander.«
    Des weiteren hatte er noch zwei Spezialitäten: Er konnte sehr gut vorlesen und spielte meisterhaft Schach, es war nachgerade genial, wie er erstklassige Spieler besiegte, als wäre es nichts. Sein Angriff war stets zügig und rücksichtslos, seine Verteidigung klug und vorsichtig, sie bestand vornehmlich aus Umgehungsmanövern, und wenn er dem Gegner Zugeständnisse machte, so lag darin scharfsinnig berechnende Voraussicht und vernichtende Tücke. Bei alldem machte er seine Züge gleichsam instinktiv oder aus Inspiration, er überlegte nie länger als vier, fünf Sekunden und mißachtete kategorisch die ehrwürdigen traditionellen Regeln.
    Man spielte nicht gern mit ihm, man hielt seine Spielweise für barbarisch, doch trotzdem kamen zuweilen Partien zustande, wo um Riesensummen gespielt wurde, die Solowjow, der jedesmal gewann, mit Freuden auf dem Altar kollegialer Bedürfnisse opferte. Die Teilnahme an Wettkämpfen, die ihn zum Star der Schachwelt hätte machen können, lehnte er jedoch stets ab. »Es liegt nun mal in meiner Natur, daß ich weder Liebe noch

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