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Das sündige Viertel

Das sündige Viertel

Titel: Das sündige Viertel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Kuprin
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Fenster, wobei sie Lichonin den Rücken zuwandte. All diese Worte über Freundschaft, Brüderlichkeit und Kameradschaft konnte sie nicht begreifen mit ihrem Spatzenhirn und ihrer schlichten bäurischen Seele. Ihrer Einbildung hatte es viel mehr geschmeichelt, daß der Student – immerhin nicht irgendwer, sondern ein gebildeter Mensch, der auf Doktor oder Advokat oder auf Richter studieren konnte – sie zu sich nehmen und aushalten wollte. Aber nun war es so gekommen, daß er nur seine Laune befriedigt hatte, er hatte erreicht, was er wollte, und schon trat er den Rückzug an. So sind sie alle, die Männer!
    Lichonin stand eilig auf, spritzte sich ein paar Handvoll Wasser ins Gesicht und trocknete sich mit einer alten Serviette ab. Dann zog er die Gardine auf und öffnete weit beide Fensterflügel. Goldenes Sonnenlicht, blauer Himmel, der Lärm der Stadt, das Grün dichtbelaubter Linden und Kastanien, das Schellengeläut der Pferdebahn, der trockene Geruch der heißen, staubigen Straße – all das drang gleichzeitig in die kleine Mansardenstube. Lichonin trat zu Ljubka und klopfte ihr freundschaftlich auf die Schulter.
    »Mach dir nichts draus, meine Gute … Was geschehen ist, ist geschehen, in Zukunft sind wir klüger. Haben Sie noch keinen Tee bestellt, Ljubotschka?«
    »Nein, ich habe immerzu auf Sie gewartet. Und ich wußte ja nicht, an wen ich mich wenden muß. Aber Sie sind auch gut. Ich habe doch gehört, wie Sie, nachdem Sie mit Ihrem Freund raus waren, noch mal zurückgekommen sind und an der Tür gestanden haben. Und von mir haben Sie sich nicht mal verabschiedet. Gehört sich das?«
    Der erste Familienzwist, dachte Lichonin. Aber er dachte es scherzhaft, ohne Ärger.
    Das Waschen, die Schönheit des golden-blauen südlichen Himmels und Ljubkas naives, teils fügsames, teils unzufriedenes Gesicht und auch das Bewußtsein, daß schließlich er der Mann sei und daß nicht sie, sondern er die Suppe auslöffeln müsse, die er sich eingebrockt hatte – dies alles zusammen straffte seine Nerven, und er bekam sich wieder in die Hand. Er öffnete die Tür und brüllte auf den dunklen, stinkenden Flur hinaus: »Alexaandra! Den Samowaar! Zwei Bröötchen, Butter und Wurst! Und ein Fläschchen Woodka!«
    Auf dem Flur hörte man Pantoffelschlurfen, und eine greisenhafte Stimme brabbelte schon von weitem: »Was brüllst du? Was brüllst du so? Hohoho! Hohoho! Wie ein wilder Hengst. Willst ein erwachsener Mensch sein, und benimmst dich wie ein Straßenjunge! Also, was gibt's?«
    Ins Zimmer trat eine kleine Alte mit spaltschmalen Augen zwischen geröteten Lidern und mit erstaunlich pergamentenem Gesicht, in dem eine lange scharfe Nase mürrisch und unheilverkündend nach unten hing. Das war Alexandra, seit eh und je Dienstbotin für die Studentenbuden, Freund und Kreditgeber aller Studenten, eine Frau von etwa fünfundsechzig Jahren, die ewig räsonierte und brummte.
    Lichonin wiederholte seinen Auftrag und gab ihr einen Papierrubel. Doch die Alte ging nicht, sie stand und schniefte, mummelte mit den Lippen und schickte unfreundliche Blicke zu dem Mädchen hin, das mit dem Rücken gegens Licht saß.
    »Was ist, Alexandra, warum stehst du wie angewurzelt?« fragte Lichonin lachend. »Oder kannst du dich nicht satt sehen? Also, daß du's weißt: Das ist meine Cousine, das heißt meine Base, Ljubow …«, er zögerte nur einen winzigen Moment, dann fuhr er eilig fort: »Ljubow Wassiljewna, aber für mich ist sie einfach Ljubotschka. Ich kenne sie schon, da war sie noch so klein.« Er hielt die Hand einen Viertelarschin über die Tischplatte. »Ich habe ihr die Ohren langgezogen und ihr, wenn sie Dummheiten machte, eins draufgegeben, da, wo die Beine angewachsen sind. Und, na ja, alle möglichen Käfer hab ich für sie gefangen … Aber nun genug, geh jetzt, du ägyptische Mumie, du Rudiment vergangener Jahrhunderte! Sonst mach ich dir Beine!«
    Die Alte aber zögerte. Sie drehte sich trippelnd ein wenig Richtung Tür, und ihr scharfer, giftiger schräger Blick ließ nicht von Ljubka ab. Dabei murmelte sie mit ihrem eingefallenen Mund: »Cousine! Diese Cousinen kennen wir! Davon laufen viele auf der Straße rum. Ach, ihr geilen Böcke!«
    »He, he, alte Schaluppe! Raus, und keinen Mucks!« schrie Lichonin sie an. »Sonst mache ich's wie dein Freund, der Student Trjassow, und sperre dich vierundzwanzig Stunden im Klo ein!«
    Alexandra ging, und noch lange hörte man auf dem Flur ihr greisenhaftes Schlurfen und ihr

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