Das Syndikat
Auto sitzen bleiben würde? Sie warf einen Blick auf ihre Tasche. Und dann? Sie seufzte. Die Situation hatte etwas Absurdes. Sie wusste, dass sie etwas völlig Unprofessionelles und mit größter Wahrscheinlichkeit etwas sehr Gefährliches vorhatte. Aber sie konnte nicht einfach im Auto sitzen bleiben oder zurückfahren. Wohin überhaupt? Da war nichts mehr. Ihr Leben, so wie es früher gewesen war, existierte nicht mehr. Ihr einziger Halt, das wurde ihr klar, war Michael gewesen. Zu ihm war sie zurückgekehrt, nicht in ihr Haus.
Gibbs schnaufte und sah weiter aus dem Fenster. Egal, wie sie sich entscheiden würde, er würde bei ihr bleiben. Er erwartete nichts von ihr. Aber du, Karen, könntest du dir noch in die Augen sehen, wenn du dich jetzt einfach mit Tabletten zudröhnen würdest?
Los, Karen, steig aus! Dieser Roth weiß etwas, er ist die einzige Spur, das einzig greifbare Puzzlestück . Sie gab sich einen Ruck und öffnete die Autotür.
Wieder peitschte ihr kalter Schneeregen ins Gesicht, es war wie eine Warnung. Gibbs wollte nicht allein im Auto bleiben und sprang auf die Straße.
»Das ist der Kerl, der auf dich geschossen hat«, sagte sie, »wir schnappen ihn uns, klar?« Es gab ihr Mut, mit dem Hund zu sprechen, der eng an ihrer Seite blieb.
Die Soldaten an der Straßensperre wurden auf sie aufmerksam und forderten sie per Megafon auf, ins Auto zurückzugehen. Sie hastete weiter, verbarg sich in der Nische einer Tiefgarageneinfahrt und wartete. Nach ein paar Augenblicken schienen die Soldaten das Interesse an ihr verloren zu haben oder sie hatten aufgegeben, und Karen schlich, an die Hausmauer gepresst, zur Eingangstür vor. Noch bevor sie sie erreicht hatte, dachte sie: Und warum sollte sie offen sein, Karen?
Sie war verschlossen, und Karen begann vor Wut zu zittern, so nah am Ziel, und jetzt scheiterte sie an einer verschlossenen Tür! Doch da entdeckte sie, dass das Rolltor der Tiefgarage nicht ganz heruntergefahren war. Kurzentschlossen lief sie die Auffahrt hinunter und kroch durch die Öffnung.
Ungehindert erreichte sie das Treppenhaus. Gibbs wich nicht von ihrer Seite, bis sie schließlich in der obersten Etage standen, direkt vor einer extra breiten Metalltür. Sieht aus wie eine Tresortür, dachte Karen. Roth muss panische Angst vor Einbrechern haben.
Wie sie in die Wohnung kommen sollte, hatte sie sich nicht überlegt. Läuten konnte sie wohl nicht. In Grenoble war sie völlig blauäugig in Cortots Wohnung gegangen, das würde ihr nicht noch einmal passieren. Dann bemerkte sie den Feuermelder an der Wand. Mit dem Pistolengriff zertrümmerte sie die Scheibe, drückte den roten Knopf, und ein ohrenbetäubendes Jaulen ertönte. Sie duckte sich und hoffte, dass Roth öffnete, um im Treppenhaus nachzusehen, ob es brannte oder rauchte.
Im Haus regte sich nichts, und ihr fiel ein, dass sie am Eingang mehrere Schilder mit Namen von Büros und Agenturen gesehen hatte. Womöglich war dies hier oben die einzige Wohnung, und wegen des Alarms waren die Angestellten alle zu Hause geblieben. Vielleicht war Roth auch geflohen? Das Schrillen der Alarmglocke schien immer lauter zu werden, immer bedrohlicher. Gibbs hatte den Schwanz eingezogen und drückte sich zwischen sie und die Wand.
Sie starrte auf die Tür, bereit, auf jeden, der herauskam, sofort zuzuspringen und ihm die Pistole an die Schläfe zu halten. Aber ihre Hände zitterten, und sie wollte lieber nicht darüber nachdenken, was mit ihnen passieren würde, sollte Roth tatsächlich herauskommen. Und was würde sie sagen? Würde sie ihn fragen, wer hat David auf dem Gewissen? Und wo ist Linh?
Schon begannen ihre Gedanken ein eigenes Spiel, verwickelten sich in Fragen, ob sie wirklich abdrücken und einen Unbewaffneten niederschießen könnte und wie sie Linh finden sollte, wenn er tot wäre?
Komm endlich! Gibbs drückte sich an sie, und auf einmal verschwand ihr Zittern. Ihr Griff um die Waffe wurde fester, und sie atmete langsamer und tiefer. Sie war bereit.
Und dann geschahen zwei Dinge gleichzeitig. Der Alarm brach ab, und sie entdeckte den Spalt zwischen Tür und Türrahmen. Sie trat näher, streckte zwei Finger aus und drückte gegen die Tür. Offen. Sie war nicht ins Schloss gefallen, weil irgendetwas unten auf dem Fußboden sie blockierte. Sie bückte sich. Steinchen. Wie sie seit Tagen auf den Straßen und Bürgersteigen gegen die Schneeglätte gestreut wurden.
Geh nicht, Karen, das ist zu gefährlich für dich. Nein, ich kann
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