Das Syndikat
Ihm war, als hätte sich etwas in ihm geöffnet, ein Raum, den er nie gewagt hatte zu betreten, dabei war er ... so ... schön ... und groß ... »Sie haben ihn überwunden«, sagte sie, »Sie werden ihn nie wieder träumen.«
»Heißt das«, sagte er, »wir müssen unsere Albträume durchleben, um sie zu überwinden? Aber ... enden sie nicht im Tod?«
Sie zögerte, dann sagte sie: »Wir müssen gleich da sein.«
Er sollte aufhören zu philosophieren.
Vor ihnen wies ein Schild auf eine Aussichtsbucht hin.
Sie blinkte, bog ein und hielt an. Durch die Scheibe sah er die Spitzen der schneebedeckten Tannen unter ihnen, und in diesem Moment fühlte er eine Wärme für sie, von der er nicht erwartet hatte, dass er sie überhaupt empfinden könnte.
Da sagte sie: »Wir müssen Opfer bringen, nicht wahr?«
»Ja«, sagte er, und in diesem Augenblick fühlte er sich vollkommen glücklich. Sein Leben hatte einen Sinn bekommen ...
»Paul!«
Cortot hörte plötzlich eine Stimme rufen. War das Wirklichkeit oder war das Teil seiner Träume, seiner Halluzinationen?
Er versuchte zu lächeln. Sein Leben mit den ewigen Konflikten, den Unzulänglichkeiten, den Fehlern ... »Thérèse ...« Wieso war sie hier? Sie saß doch noch auf dem Stuhl, gefesselt, geknebelt ... »Sie haben dir nichts ... dir ist nichts ...« Da war doch der Maskierte, und er hielt ihr den Pistolenlauf an den Kopf, im Hintergrund der Druck von Klee ...
»Nein, mir ist nichts passiert. Ich bin ja hier.« Lächelte sie? »Ach, Paul ...«
»Du musst nicht weinen«, sagte er. Er spürte, wie die Kraft ihn verließ, »Weine nicht, es ist alles okay.«
»Nein! Paul! Geh nicht!«
Auf einmal war er so müde, so unendlich müde.
Die Härte, die ihr Gesicht oft beherrscht hatte, war wie weggeschmolzen. Sie sah so jung aus, so ... so wie früher. Aber ... er fühlte sich so weit weg, weit, weit weg.
Und plötzlich – war er eingeschlafen? – war da nicht mehr Thérèse, sondern Lan.
»Linh?«, fragte er. »Haben sie Linh gefunden?«
»Nein, noch nicht.« Das war Lans Stimme. Nicht die von Thérèse.
»Es tut mir leid ... und Thérèse?«
»Sie war da, ja, aber sie fühlt sich nicht so gut. Nichts Schlimmes, die Ärzte kümmern sich um sie.«
Nichts Schlimmes also. »Und das Gegenmittel ...?«
Er wartete auf eine Antwort, aber Peyroux antwortete nicht.
»Zu spät, ja? Es ist zu spät ...« Eben war da noch Hoffnung, ein bisschen Hoffnung, Nein, Paul, Sie werden wieder gesund! , müsste sie nur sagen. Aber sie sagte nichts.
»Ich ...«, fing er an. Weiter kam er nicht. Ich bin kontaminiert, infiziert, all diese schrecklichen Wörter, die für ihn immer nur technische Begriffe gewesen waren, waren auf einmal Realität.
»Sie haben mich gerettet, Paul, und Tausende von Menschen«, hörte er sie sagen.
Also, keine Hoffnung mehr.
»Ich werde sterben«, sagte er und das Seltsame war, er konnte es immer noch nicht glauben.
Lan Peyroux warf einen letzten Blick auf den sterbenden Cortot, dann ließ sie sich von der Krankenschwester zurück in ihr Zimmer führen. Die Schuld lastete auf ihr, sie drohte ihr die Luft zu nehmen, und sie kämpfte mit den Tränen. Schnell drängte sie alles weg, wie sie es von klein auf tat. Nur nicht weinen. Sonst würde etwas aufbrechen in ihrem Innern, und davor fürchtete sie sich. Also, wie lauten die Fakten, Dr. Peyroux?, fragte sie sich streng.
In Brüssel war Biowaffenalarm ausgelöst worden. Sie begriff nicht, wieso die Polizei ihre Information nicht weitergegeben hatte. Dass die Behälter nämlich leer waren. Weil Dr. Paul Cortot sie geöffnet hatte. Weil er sich geopfert hatte. Er, den sie nie für voll genommen, nur als Streber wahrgenommen hatte. Schuldgefühle rollten heran, entschieden drängte sie sie weg und fragte sich: Warum ziehen die dieses ganze Impf- und Überwachungsprogramm trotzdem durch?
Wie war es überhaupt möglich gewesen, ins streng überwachte Institut einzudringen und die Behälter herauszubringen? Wenn nicht durch Hilfe von ganz oben? Durch eine Manipulation des Überwachungssystems? Wer war dazu in der Lage?
Jemand aus dem Ministerium? Ist so etwas überhaupt möglich?, fragte sie sich. Immerhin leben wir in einem zivilisierten Land, in Frankreich, und nicht in irgendeinem korrupten afrikanischen oder asiatischen Staat. Etwas in ihr zerbröckelte, ein Monument, etwas, das immer ihr Leitbild gewesen war.
Vor ihr tauchte der sterbende Cortot auf, und ihr Herz spielte verrückt, sie fand gerade
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