Das Syndikat
gebracht hatte.
Und dann hatte er sich verboten, weiter darüber nachzudenken. Denk nicht so viel! Tu es einfach, du hast eine ganze Menge gutzumachen!
»Noch achtzehn Minuten«, sagte sie, als sie im Dunkeln vor dem verfallenen Gebäude einer ehemaligen Fabrik anhielten und die Druckbehälter aus dem Kofferraum holten. »Okay«, sie sah auf die Uhr, »uns bleiben dann noch sechzig Minuten bis zu einer Impfung im Labor.« Sie vermied alles Sentimentale, und er war ihr dankbar dafür.
Sie setzte sich ins Auto und schloss die Türen.
Er kniete sich in den Schnee. Als er den Einfüllstutzen aufhebelte, hoffte er, dass der Tank dicht war. Selbst wenn er sich den Schal vor Mund und Nase band und selbst wenn er darauf achtete, die Öffnung des Tanks mit der Decke abzudichten, die Peyroux glücklicherweise im Kofferraum gehabt hatte, würde er Bakterien einatmen.
Sechzig Minuten sind eine lange Zeit, dachte er, zog noch einmal den Schal zurecht, hielt den Druckbehälter in den Stutzen des Tanks und öffnete das Ventil. Mit einem scharfen Zischen strömte das Aerosol aus. Cortot nahm den nächsten Behälter und versuchte, beim Wechseln die Öffnung mit der Decke so gut es ging abzudichten. So leerte er einen Behälter nach dem anderen und verschloss den Stutzen. Er arbeitete konzentriert und so schnell er konnte. Währenddessen verbot er sich jeden störenden Gedanken.
Dann stand er auf, klemmte sich die leeren Behälter unter die Arme, legte sie in den Kofferraum und stieg ein.
»Okay«, sagte er nur als Antwort auf Peyroux’ besorgten Blick, worauf sie Gas gab. Zehn Minuten noch bis zum Treffen. Und sechzig Minuten bis ... Er dachte nicht weiter.
Nur eine dünne Schneeschicht bedeckte die Straße, sie war offensichtlich vor Kurzem geräumt worden. An manchen Stellen türmten sich Schneewände, an anderen fiel der Hang so steil ab, dass auch der Schnee keinen Halt fand. Cortot starrte geradeaus und zählte die Minuten.
»Ich habe nie geglaubt, dass das einmal Wirklichkeit wird«, brach sie auf einmal das Schweigen. »Die Versuche, die Berechnungen, die Protokolle – das alles war nur eine Hypothese, eine Art ...«
»... Spiel?«, fragte er.
»Ja.«
Ihm kam es vor, als hätte er eine neue Wirklichkeit betreten, in der schärfere Kontraste, härtere Konturen, klarere Töne vorherrschten, eine Wirklichkeit, in der auch er sich selbst auf diese veränderte Weise empfand.
»Ich habe Geheimnisse verraten«, sagte er deshalb. Die Angst, für den Verrat bestraft zu werden, trat hinter das zurück, was er eben getan hatte.
»Sie? An wen?« Der Wagen schlitterte, doch Peyroux brachte ihn zurück in die Spur.
»An ein privates Sicherheitsunternehmen. Sie haben mir Geld geboten. Viel Geld für meine Verhältnisse. Und ich wollte ...« Er schüttelte den Kopf, im Nachhinein erschien ihm sein Denken, überhaupt die ganze Art und Weise, wie er gedacht, wie er gelebt hatte, unglaublich naiv.
»... beobachten, wie es an Menschen wirkt?«, fragte sie.
»Ja.«
»Wissen Sie, dass Sie längst nicht der Erste sind?« Sie seufzte. »In den neunzehnhundertvierziger Jahren, im Chinesisch-Japanischen Krieg, ließen die Japaner von chinesischen Kriegsgefangenen Waffen herstellen, die mit Yersinia Pestis infizierte Flöhe enthielten. Bei Kriegsende wurde das Lager aufgelöst, und die mit Pestbakterien infizierten Ratten kamen frei. Mehr als zwanzigtausend Menschen starben an der Pest. In meinen Albträumen war ich selbst in einem solchen Lager, über und über mit Beulen bedeckt und ... Ich hatte immer Angst vor dem Tag, an dem Linh die Wahrheit erfahren würde, was ich in Wirklichkeit im Labor mache.«
Ja, das konnte er verstehen. »Thérèse wusste nichts von den Chips. Ich hab ihr nie etwas erzählt. Das Wort Techni k hat schon genügt, und sie hat das Thema gewechselt.«
»Und, haben Sie auch davon geträumt, von Ihrer Arbeit?«
»Ja«, zum ersten Mal öffnete er sich einem Menschen. Dass es gerade Peyroux sein würde, hätte er nie gedacht. »Ich fahre die Rampe einer Tiefgarage hoch und kann das Auto nicht mehr lenken und bremsen. Die Technik gehorcht mir nicht mehr. Die Knöpfe und Hebel funktionieren nicht mehr, weil irgendwo ein starkes elektromagnetisches Feld die Elektronik des Mikrochips blockiert. Ich rase auf die Mauer zu, auf die Mauer im sechsten Stock des Parkhauses ... und dann endet der Traum. Mitten in der Angst. Mitten in der Panik.«
Sie lächelte nur matt, aber noch nie hatte ihn ein Lächeln so berührt.
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