Das Syndikat
Türspalt sah, wenn sie in das Licht blickte und den Geruch wahrnahm, der aus dem Spalt hervordrängte, ihr Gesicht brannte plötzlich – und dann war Mickey Mouse da. Piratenwelt. Disneyland.
Anaheim in Kalifornien. Südöstlich von L. A. Sie stoppte ihre Gedanken. Konstruierte sie gerade einen Zusammenhang, den es gar nicht gab?
Sie war vier ...
Sie griff zum Telefon.
Vic meldete sich. »Ich muss meine Mutter sprechen.«
»Sie ... badet gerade.«
»Am Telefon ist doch keine Schnur mehr, oder?«
Er brauchte einen Moment, um zu begreifen, was sie meinte, dann murmelte er irgendwas, und kurz darauf war ihre Mutter am Apparat.
»Wir haben ihn besucht, als du mit mir in Disneyland warst, oder?«, fragte sie.
» Ja.«
»War er mit in Disneyland?«
»Nein. Warum fragst du?«
»Ich will endlich meinen Albtraum zu Ende träumen, Mom.«
Es rauschte im Hörer.
»Mom?«
»Ja, ja. Ich verstehe. Ich ... gut. Er hatte mich in sein Büro eingeladen, mit dir zusammen, er wollte mir die Firma zeigen, und anschließend wollten wir Eis essen gehen. Dann bekam ich eine Nachricht, und ich musste dringend an einen Computer und etwas umschreiben. In der Zeit wollte er dich herumführen.
Du bist ausgerutscht und hast dich an irgendwas Scharfkantigem geschnitten. Du warst völlig hysterisch, ich hab ihn ein Taxi rufen lassen, das hat uns ins Krankenhaus gebracht.«
»Und warum hast du mir immer von Disneyland erzählt?«
Im Hörer rauschte es. »Mom?«
»Ich wollte, dass du positive Gefühle hast, wenn du an deine Narbe erinnert wirst.«
»Mom! Du hast einfach ... Das ist Gehirnwäsche!«
»Mein Gott, Karen, du bist schrecklich dramatisch!«
»Ich fahre zu ihm.«
»Was?«
»Ich glaube dir nicht mehr. Ich will die ganze Wahrheit wissen, und zwar von ihm.«
Karen erwartete Protest, Widerspruch, irgendwelche logisch anmutenden Argumente, doch ihre Mutter sagte nur: »Sei vorsichtig.«
Kaum fünfzehn Minuten später schickte sie Karen eine Textmessage.
San Diego, Motel Best Times Inn, Adobe Falls Road, Zimmer 19.
Wenn du schon eine Zeitreise machst, dann fang sie dort an.
» Mom«, sagte sie zu sich selbst, »du hast genau gewusst, dass ich dich danach fragen würde.«
EINE WOCHE SPÄTER
100
Brüssel
USA. Das bedeutete Grenzüberschreitung, und das hieß: Sie musste sich den Identitäts-Chip mit ihren persönlichen Daten und einem Serum gegen die Pestbakterien implantieren lassen.
Noch nicht einmal das Flughafengebäude hätte sie ohne ID-Chip betreten dürfen, geschweige denn amerikanischen Boden. Und als Gibbs seit dem Packen nicht mehr von ihrer Seite wich, sich sogar in den Koffer auf ihre Sachen legte, war klar, dass er mitkam, und das bedeutete, dass auch er einen Chip bekommen musste.
Die Stelle an ihrem Oberarm brannte auch einen Tag später noch und zeigte eine reiskorngroße Schwellung. »Dauert nur ein paar Tage«, hatte der Arzt mit fröhlicher Stimme versichert und ihr dann das Formular aus der Hand genommen, auf dem sie unterschrieben hatte, den Chip weder zu entfernen noch sein Lesen zu verhindern.
Ein seltsames Gefühl beschlich sie seitdem, wenn sie an einem der sichtbaren – versteckte gab es noch viel mehr – Scanpoints vorbeiging. Ihr Bewegungsmuster wurde nun auch in diese gigantische Datenflut eingespeist, und wenn es in das Profil und das Muster eines gesuchten Verbrechers passte, würde sie zu den potenziellen Tätern gehören.
Dann erinnerte sie sich an Thierry Traessarts Rat, eine Metallmanschette über die Stelle mit dem Chip zu ziehen. Umgehend ließ sie sich vom Mechaniker in ihrer Autowerkstatt eine anfertigen. »Ich frag Sie lieber nicht, wofür Sie die brauchen«, hatte er augenzwinkernd gesagt.
Als sie die Haustür abschloss, dachte sie an Michael, und es kam ihr vor, als würde auch sie nicht mehr hierher zurückkehren. Im Taxi wollte sie noch einen Blick über die Schulter werfen, sie ließ es dann aber. Was würde sie sehen? Ein Haus mit einem vernachlässigten Vorgarten, schmutzigen Schneehaufen und graubraunem Rasen.
Sie hatte sich nicht mehr darum gekümmert. Gibbs lag ganz still in seiner Transportkiste.
Die Gedanken an Nyström drängte sie weg, wie schon die ganze Zeit. Sie hatte sich etwas eingebildet, hatte geglaubt, sie würde eine besondere Verbindung spüren, und hatte sich dagegen gewehrt. Warum dachte sie jetzt immer wieder an ihn? Hör damit auf, Karen.
101
San Diego, USA
Wie fühlt man sich, wenn man seinen eigenen Albtraum erforscht?
Noch
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