Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Tagebuch der Eleanor Druse

Das Tagebuch der Eleanor Druse

Titel: Das Tagebuch der Eleanor Druse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
Vom Netzwerk:
hatten.
    In diesem sowie in weiteren Zeitungsberichten, die Madeline ausgeschnitten hatte, wurde erwähnt, dass es am selben Ort schon einmal einen Brand gegeben hatte. Am 2. November 1869, also auf den Tag genau siebzig Jahre vor dem Krankenhausbrand, war die Textilfabrik von Ebenezer Gottreichs Onkel und Namensvetter ebenfalls ein Raub der Flammen geworden.
    Zwei Brände an ein und derselben Stelle? Wenn das nicht seltsam war! Seit ich denken kann, hieß es immer, dass nur das alte Kingdom abgebrannt sei, aber vom Brand einer Textilfabrik war nie die Rede. In einem der Artikel wurde das Feuer in der Gates Falls Mill in einem Extrakasten beschrieben: In der Fabrik hatten während des Bürgerkriegs zweihundert Textilarbeiter Uniformen für die Soldaten der Unionsarmee hergestellt. Als die Fabrik 1869 abbrannte, konnten sich die meisten erwachsenen Arbeiter gerade noch rechtzeitig retten, aber die Kinder, von denen viele aus irischen Einwandererfamilien stammten und in Zwölf-Stunden-Schichten an den Färbe-und Bleichkesseln im Keller arbeiteten, kamen dabei fast alle in den Flammen ums Leben.
     
    Während ich noch über das, was ich gerade gelesen hatte, nachdachte, kramte ich unter meinen eigenen Unterlagen die Nachricht hervor, die Madeline mir in der Nacht ihres Todes geschrieben hatte.

    LIEBE SALLY: DAS KLEINE MÄDCHEN, DAS UNS GERETTET HAT, IRRT NOCH IMMER UMHER. ES IST WIEDER IM REICH DER LEBENDEN. DAS FEUER KONNTE IHM NICHTS ANHABEN. ES BRAUCHT UNSERE HILFE. KOMM SOFORT ZU MIR.

    Die hastig hingekrakelten Zeilen warfen nun eine ganz neue Frage auf: Welches Feuer hatte dem kleinen Mädchen nichts anhaben können?
    Ich wandte mich wieder den Zeitungsausschnitten zu.
    Madeline hatte erschreckende Berichte über Gottreichs sensationelle Operationsmethode aufgehoben, mit der er mich im Alter von elf Jahren fast meiner Persönlichkeit beraubt hätte. Gottreich war ein glühender Verehrer des berühmtberüchtigten Dr. Walter Freeman gewesen, der als passionierter Verfechter der Lobotomie 1935 erste Experimente an Leichen durchgeführt und schließlich einen
    »eleganten« Eingriff entwickelt hatte, der als »transorbitale Lobotomie« bekannt wurde. Ab 1948 führte Dr. Freeman ihn an Hunderten von Menschen durch, darunter auch an Kindern, Akademikern und Filmstars, zu denen die ebenso schöne wie talentierte Frances Farmer gehörte, die als politische Aktivistin wohl wegen ihrer radikalen Ansichten zum Opfer dieses brutalen Eingriffs in ihr Gehirn wurde. Bis 1955 hatte man über 40.000 Männer, Frauen und Kinder dieser
    »Psychochirurgie« unterzogen, wie die Lobotomie in den Boulevardblättern der damaligen Zeit genannt wurde. 
    Bereits Mitte des neunzehnten Jahrhunderts waren Ärzte von der Möglichkeit fasziniert gewesen, unbequeme Patienten durch das Abtrennen oder die Zerstörung ihrer Stirnlappen von ihren psychischen Störungen zu »befreien«. Schon Klaus Gottreich, der Vater von Ebenezer, hatte die Vorläuferform dieses Eingriffs, die so genannte Leukotomie, an Gefangenen, Kindern und Geisteskranken vorgenommen.
    Bei den ersten Lobotomien mussten noch Löcher in den Schädel der Patienten gebohrt werden, um mit Instrumenten oder Drähten ins Gehirn vordringen zu können. Weil diese Instrumente gelegentlich abbrachen und die Operationsmethode Infektionen hervorrief und den Stirnlappen mehr als beabsichtigt schädigte, entwickelten Freeman und seine Anhänger (unter ihnen auch Gottreich) ein stabiles, eispickelartiges Instrument, mit dem sie auf eine genial einfache Methode ins menschliche Gehirn vordringen konnten: Man musste es nur direkt über dem Auge durch das Orbitaldach in den Schädel einführen. Der Eingriff war so unkompliziert, dass er in den vierziger und fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts sogar von Psychiatern und Psychologen angewandt wurde, die über keinerlei chirurgische Ausbildung verfügten. Die Operation wurde als »einfach, billig und fabelhaft wirksam« gepriesen. Die einzige sichtbare körperliche Nebenwirkung war für gewöhnlich ein blaues Auge, weshalb die meisten Patienten nach der Operation etwa eine Woche lang eine Sonnenbrille trugen.
    Im Lauf der Zeit jedoch stellte sich der Eingriff als nicht unproblematisch heraus, weshalb auch Vater und Sohn Gottreich schließlich in Verruf gerieten. Die beiden Ärzte, einst als Pioniere auf dem Gebiet der Psychochirurgie gefeiert, werden heutzutage ebenso kritisch beurteilt wie die Lobotomie, die sie dereinst propagiert hatten. Kein

Weitere Kostenlose Bücher