Das Tagebuch der Eleanor Druse
um es mit Bobbys Worten auszudrücken: Hatte ich einen Dachschaden?
Wenigstens war die Ärztin bei den nun folgenden Unterstellungen ausgesprochen taktvoll.
Ob ich vielleicht schon einmal in Betracht gezogen hätte, wollte sie wissen, dass die Stimme lediglich das Produkt meiner – wie sie es nannte – »blühenden Fantasie« war?
Sie räumte allerdings auch ein, dass es durchaus möglich sei, dass ich tatsächlich »etwas hörte«, was ich ihr hoch anrechne.
»Was wäre zum Beispiel«, überlegte Dr. Massingale laut, »wenn Sie die Stimme in Ihrem Unterbewusstsein oder einer Art Traumzustand gehört hätten? Oder vielleicht entspringt sie einer Region Ihres Gehirns, die Ihrem wachen Bewusstsein normalerweise nicht zugänglich ist? Gehört sie vielleicht zu einer verdrängten Erinnerung?« Ihre Erklärungen klangen so, als ob ich es möglicherweise mit einem nicht uninteressanten psychologischen Phänomen zu tun hatte und nicht mit beginnender seniler Demenz, was sie vielleicht viel eher befürchtete.
Beim Wort verdrängt wurde ich hellhörig, weil mir einfiel, dass ich auch Dr. Gottreich vollkommen aus meinem Gedächtnis verdrängt hatte. Ich musste zumindest in Betracht ziehen, dass die Stimme, die ich gehört hatte, meine eigene gewesen war: Die Stimme der elfjährigen Sally Druse, die Dr. Gottreich an dem Tag, an dem 1939 das Feuer ausgebrochen war, im Schmerzraum behandelt hatte. Diese Erinnerung war so grauenvoll und schrecklich gewesen, dass ich sie aus dem bewussten Teil meines Gehirns, dem ich über so lange Zeit hinweg Zügel angelegt hatte, hinausgedrängt und erst vor kurzem so überraschend wiederentdeckt hatte.
Als professionelle und spiritistische Mystikerin fiel mir noch eine weitere, gleichermaßen esoterische wie verlockende Erklärung ein: Vielleicht hatte ja mein eigenes, an Zeit, Raum und Materie gebundenes und immer noch mit fünf Sinnen ausgestattetes irdisches Selbst irgendwie Kontakt mit meiner unsterblichen Seele aufgenommen? Wenn ich Dr. Massingale mit dieser Möglichkeit konfrontierte, würde sie womöglich auf der Stelle ein EEG machen und mich noch einmal auf einen epileptischen Anfall hin untersuchen lassen. Menschen, die nur in rein materiellen Begriffen denken können, erschaudern bei dem Gedanken, dass unser Selbst zweigeteilt im Diesseits und im Jenseits sein könnte. Wenn man den Philosophen aber Glauben schenken darf, dann ist die Ewigkeit entweder das Jetzt oder sie beinhaltet das Jetzt, und dann gibt es kein Davor oder Danach. Und das wiederum bedeutet, dass ich eine unsterbliche Seele haben muss, die mindestens zwei Zustände oder Seinskanäle kennt. Wenn aber der Tod und meine körperlose Existenz nach ihm nur Teile oder Facetten des Lebens sind, dann wäre es durchaus denkbar, dass man mit dem unsterblichen und körperlosen Teil des eigenen Selbst kommunizieren kann. Hatte mich die Stimme dieses armen geisterhaften kleinen Mädchens nur deshalb so bis ins Mark erschüttert, weil sie eigentlich meine eigene Stimme war?
Waren mir ewige Einsamkeit und Verzweiflung ebenso vorbestimmt wie die unartikulierte Agonie dieser gequälten Seele, die mir aus dem Jenseits entgegenschrie?
Ganz egal, wofür Dr. Massingale sich entschied, ich musste weiter nach der Stimme suchen und meine Nachforschungen fortsetzen, bis ich eine Antwort auf meine Fragen bekommen hatte. Ich musste die Stimme wiederfinden, ihren unartikulierten Schreien zuhören und warten, bis sie schließlich ein Wort in einer Sprache hervorbrachte, die ich verstehen und auf das ich mich stürzen konnte wie eine Verhungernde, der jemand einen Brocken Essen zuwirft.
Interessante Gedankengänge, sicherlich. Aber ohne jegliche Bedeutung.
Ich wurde entlassen und nach Hause geschickt.
Und sollten sich derartige Symptome wiederholen, sagte Dr. Massingale, würde sie mich gerne an einen Psychiater überweisen.
IM EXIL
DAS ABNORMALE IST NORMAL
IM VERLAUF DER NÄCHSTEN WOCHEN wurden immer wieder Gerüchte laut, dass es im Kingdom zu Unregelmäßigkeiten gekommen sei. Ich bekam das alles nur aus der Ferne mit, während ich zu Hause in meinem bequemen Sessel angestrengt darüber nachdachte, wie ich es bewerkstelligen könnte, dass man mich wieder zurück ins Kingdom und meine Arbeit dort beenden ließ.
Seit den letzten Erdbeben, die immer nur das Krankenhaus und nie die umliegenden Gebäude erschüttert hatten, äußerten einige Statiker Bedenken wegen der Stabilität des Bauwerks, und externe Wartungsfirmen
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