Das Tagebuch der Eleanor Druse
weiterzugeben, insbesondere nicht an mich.
Nach kurzem Suchen fand ich die Passage, die mich betraf und die Ray für Bobby abgeschrieben hatte: »Gott hat Sally Druse mit einem sehr viel gnädigeren Gedächtnis gesegnet als mich, und deshalb will ich ihr auch nicht mit grausigen Erinnerungen ihren Seelenfrieden rauben.«
An anderer Stelle erläuterte Madeline ihre sorgfältig durchdachte Entscheidung, mir die gemeinsam erlittenen Stunden des Schreckens nicht erneut ins Gedächtnis zu rufen.
Sie wollte mir diese Pein ersparen, obwohl sie selbst ihr Leben lang unter diesen Erinnerungen gelitten hatte. Ich entdeckte noch einige andere Abschnitte, die mich betrafen und die Ray offenbar übersehen hatte, fand aber nichts darin, was ich mir nicht schon selbst zusammengereimt hatte.
Schließlich fand ich auch die Stellen, auf die sich Ray bezogen haben musste, als er sagte, der Abschiedsbrief sei »zu brisant«, als dass man ihn jemandem zu lesen geben könnte.
Brisant waren sie tatsächlich. Und zwar aus verschiedenen Gründen. Einer davon war Schuld. Es war meine Schuld, dass Peggy Kruger die Aufzeichnungen ihrer Mutter gelesen hatte und dadurch an die schrecklichen Ereignisse erinnert worden war, die Madeline in ihrem Tagebuch festgehalten hatte.
Als Peggy Kruger im Juni 1993 geheiratet hatte, war sie mit ihren 38 Jahren nicht mehr die Jüngste gewesen und hatte wohl die biologische Uhr laut und vernehmlich ticken gehört. Als sie ziemlich bald nach der Hochzeit schwanger wurde, ging sie, da sie in Lewiston wohnte, zu den Vorsorgeuntersuchungen in die gynäkologische Abteilung des Kingdom Hospital. Ihr Mann war Regional Vertreter eines großen Wertpapierhandelshauses, das im beginnenden Börsenboom der neunziger Jahre prächtig gedieh. Die beiden wohnten in einem Bungalow ganz in der Nähe von Madeline, die es kaum erwarten konnte, dass ihre Enkeltochter zur Welt kam.
Im August des Jahres 1994 war Peggy im neunten Monat, und eines Abends setzten die Wehen ein. Als sie gegen zehn Uhr in immer kürzeren Abständen kamen und sich ihr Gebärmutterhals zu weiten begann, brachte Peggys Mann sie zur Entbindung ins Kingdom Hospital.
Ich sollte an dieser Stelle vielleicht erwähnen, dass Madeline Kruger nach dem Brand des alten Gottreich-Krankenhauses nicht ein einziges Mal im neuen Kingdom Hospital gewesen war – zumindest ging das aus ihren Unterlagen hervor.
Bestimmt war sie auch jetzt nicht sonderlich darauf erpicht, an den Ort ihrer grausigen Kindheitserinnerungen zurückzukehren. Trotzdem äußerte sie in ihrem Tagebuch keinerlei Besorgnis darüber, dass ihr Enkelkind im Kingdom Hospital zur Welt kommen sollte. Warum auch? Schließlich war sie felsenfest davon überzeugt, dass Dr. Gottreich längst tot war.
Als ich las, was dann geschah, fing ich am ganzen Körper zu zittern an. Nicht nur Madeline war mit dem Bösen in Berührung gekommen, sondern es hatte auch Peggy heimgesucht, was die arme Madeline wiederum so lange gequält hatte, bis sie als einzigen Ausweg nur noch den Selbstmord gesehen hatte.
Es war eine schwere Geburt. In den Wehenpausen fiel die arme Peggy immer wieder für kurze Zeit in einen von Albträumen heimgesuchten Schlaf, bis sie schließlich am frühen Morgen ihr Kind, ein kleines Mädchen, tot zur Welt brachte.
Als wäre das allein nicht schon die schlimmste Schreckensvision jeder werdenden Mutter gewesen, erzählte Peggy Madeline auch noch, dass sie während einer ihrer kurzen Schlafphasen einen entsetzlichen Albtraum gehabt hatte, an den sie sich in allen Einzelheiten erinnern konnte. In dem Traum war sie mit ihrem Neugeborenen, das ein strahlend weißes Taufkleidchen trug, in einer Kirche gewesen. Auf einmal hörte Peggy, wie auf der Empore die Orgel ein Trauerlied zu spielen begann und so laut anschwoll, dass die Bänke wackelten und die Steinplatten zu ihren Füßen erbebten.
Dann sah sie, wie sich draußen im Kirchhof ein Grab auftat und ein alter Mann in zerlumpten schwarzen Kleidern aus der Erde stieg. Sein Kopf, an dem sich eine hässliche, blasse Narbe entlangschlängelte, kam Peggy vor wie ein Totenschädel. Der Mann rannte in die Kirche und riss ihr das Kind aus den Armen, und weil die Orgelmusik so ohrenbetäubend laut war, hörte niemand Peggys verzweifelte Hilferufe. Peggy rannte dem grässlichen Alten auf den Kirchhof nach, wo sie hilflos mit ansehen musste, wie er mitsamt dem Kind in seinem Grab verschwand und sich die Erde über den beiden schloss.
Dann hörte die Musik
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