Das Tagebuch der Eleanor Druse
Oszillationen, modale Analysen, Neotektonik und die Aktivität lokal begrenzter Erdbebenherde als Erklärung dafür an, dass ein Erdbeben lediglich einen einzigen Gebäudekomplex beschädigen konnte und von der umliegenden Gemeinde fast nicht bemerkt wurde.
Das taten sie nicht, um gezielt Fehlinformationen zu verbreiten, sondern weil nur eine wissenschaftliche Erklärung der seltsamen Phänomene im Krankenhaus in der Lage war, Patienten und die Belegschaft zu beruhigen.
Trotzdem blieben viele Fragen offen, die auch weiterhin von den Journalisten gestellt wurden. Dr. James beantwortete sie meistens so, wie er es einem Reporter des Sun Journal gegenüber tat: »Es gibt keinen Grund zur Besorgnis. Das Abnormale ist ganz normal.« Diese Äußerung wurde im Kingdom rasch zum geflügelten Wort, über das sich die ganze Belegschaft lustig machte.
Wie in dem Witz über den Betrunkenen, der seine in einer dunklen Gasse verlorenen Schlüssel auf der Hauptstraße sucht, weil dort mehr Licht ist, suchten auch Ärzte, Experten und Ingenieure die Gründe für die beunruhigenden Unregelmäßigkeiten am Kingdom nur an Stellen, die vom Lichtschein der Vernunft und Wissenschaft erhellt wurden. Für die Schattenregionen, in denen sich wesentlich rätselhaftere und bedrohlichere Phänomene verbargen, interessierten sie sich nicht, weil unerklärliche Erscheinungen und geisterhafte Trugbilder per definitionem keine wissenschaftlich verwertbaren und durch Versuche jederzeit nachvollziehbaren Daten liefern können.
DER ABSCHIEDSBRIEF
Ich igelte mich zu Hause ein und wartete auf eine passende Gelegenheit, um wieder ins Kingdom Hospital zu kommen, wo ich meine Nachforschungen fortführen und versuchen wollte, mit dem kleinen Mädchen in Verbindung zu treten. Maddy und ich hatten ja schon als Kinder geglaubt, dass wir der Kleinen helfen könnten, wenn wir nur ihren Namen wüssten und irgendwie herausbekämen, was mit ihr geschehen war. Mir war aber auch klar, dass man im Kingdom bestimmt Verdacht schöpfen würde, wenn ich mich allzu bald wieder dort einweisen ließ. Außerdem musste ich mir einen guten Grund dafür überlegen. Wenn ich epileptische Anfälle vortäuschte, würden sie mir wieder diese blöden Dämmer-Pillen verschreiben, die mir meine geistige Energie raubten. Aber gerade die brauchte ich ganz dringend, wenn ich mit meinen Nachforschungen weiterkommen und Dr. Rattentod die Stirn bieten wollte.
Die Wartezeit vertrieb ich mir damit, dass ich Madelines Papiere und Zeitungsausschnitte durchsah. So kam es, dass ich an einem bitterkalten Nachmittag im Februar, an dem der Himmel so grau gesprenkelt wie das Fell eines Apfelschimmels war und der Wind die bleiverglasten Scheiben meiner Fenster zum Klirren brachte, jenes Papier fand, das die Polizei und das Personal im Kingdom als Madelines
»Abschiedsbrief« bezeichnet hatten. Ollie und Danny hatten Recht gehabt. Madeline hatte keinen Abschiedsbrief im herkömmlichen Sinn hinterlassen. Sie musste in der Tat zumindest als Hobbyschriftstellerin tätig gewesen sein, denn der »Brief« sah eher aus wie eine Semesterarbeit und bestand aus mehreren mit dem Computer geschriebenen und sorgfältig formatierten Seiten, bei denen sogar die Absätze eingerückt waren. Während normale Lebensmüde ihren Abschied von dieser grausamen Welt mit einem Bleistift auf einen Fetzen Papier kritzeln, brauchen Schriftsteller dafür einen Computer, einen Laserdrucker und mindestens 10.000 Wörter. Selbst ich hatte mich täuschen lassen, denn als ich Madelines Papiere zum ersten Mal durchgesehen und darin keinen handschriftlichen Abschiedsbrief gefunden hatte, war ich davon ausgegangen, dass Hilda diesen absichtlich zurückgehalten hatte.
Eigentlich war der »Abschiedsbrief« auch nur der letzte Teil eines sorgfältig geführten Tagebuchs, und weil Madelines Gedanken gegen Ende ihres Lebens immer enger um das Thema Selbstmord gekreist waren, hatte sie auch diese aufgeschrieben, was für sensible und kreative Menschen wie sie nichts Ungewöhnliches ist. Diese letzten Seiten mussten wohl ausgedruckt auf dem Tisch gelegen haben, als Madeline tatsächlich den Schritt in die Dunkelheit getan hatte. Wenn Polizisten so etwas neben einer Leiche mit dem Kopf im Backrohr finden, nennen sie es einen »Abschiedsbrief«, auch wenn es keiner im klassischen Sinn ist. Madeline hatte die letzten Einträge in ihr Tagebuch an Hilda adressiert und sie strikt angewiesen, die Unterlagen über Gottreich an niemanden
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