Das Tagebuch der Patricia White (German Edition)
meinem Besitz? Oder in meinem Besitz gehabt ? Wie kam ich dazu? Und warum hatte ich nach wie vor dieses verdammte Gefühl, dass es besser gewesen wäre, dieses Buch zu verstecken? Zu vergessen? Oder es – und dieser Gedanke erschrak mich – zu verbrennen .
Das Buch zog mich an w ie die Erde ihre Bewohner. D ennoch strebte jede Faser meines Körpers danach, dieses Buch zu schließen und es nie wieder zu öffnen. Und niemals herausfinden, was es damit auf sich hatte? Nein. Ich musste es lesen, musste umblättern, musste wissen, was in diesem Buch stand und warum ich es an Sandra Berington geschickt hatte.
Die nächste Seite war mit Schreibschrift vollgeschrieben. Die Worte waren schwer lesbar. Jedes einzelne wanderte von links nach rechts unter die hellblau gestrichelte Lin i e.
Liebes Tagebuch,
ich hab dich heute von meine r Mom zum Geburtstag geschenkt bekommen . Sie meint, ich soll in dich meine Geheimnisse schreiben. Also Sachen , die ich niemandem sage, nur dir. Aber ich habe doch keine Geheimnisse. Also werde ich mich heute mal vorstellen, weil meine Mom sagt, man macht das so, wenn man ein neues Tagebuch anfängt. Meine Mom weiß das. Sie hat nämlich selbst ein Tagebuch gehabt, als kleines Mädchen.
Ich heiße Patricia. Ich habe blonde Locken und meine Mom sagt, man nennt sie Spirallocken, weil sie wie viele kleine Spiralen aussehen. Ich habe blaue Aug en und ab und zu darf ich mich schminken. Dabei hilft mir aber meine Mom, weil ich das alleine nicht so schön kann . Ich sehe dann aus wie eine Prinzessin, meint meine Mom. Aber ich finde, ich sehe aus wie Madonna. Du weißt schon, diese coole Pop-Sängerin, die so wirklich cool tanzen und singen kann.
Ich bin acht Jahre alt. Wenn ich groß bin, möchte ich auch ein Pop-Star werden. Ich bin nämlich eine wirklich gute Tänzerin. Ich gehe zwei Mal in der Woche in die Ballettschule zu Misses Myer. Dort lerne ich, wie man richtig gut tanzt. Misses Myer meint, aus mir wird einmal eine Primaballerina. Aber ich weiß, dass ich eine Pop-Tänzerin werde. Wie Madonna. Das wird sehr schön.
Nein. Jetzt habe ich geschwindelt. Ich werde keine Tänzerin werden. I ch sitze nämlich im Rollstuhl. Es war ein Unfall. Vor drei Monaten hat mich ein Auto angefahren. In die Ballettschule bin ich nur vor dem Unfall gegangen. Das geht jetzt nicht meh r. Ich habe nämlich kein Gefühl in den Beinen. Das hört sich komisch an, ist aber so. Einmal habe ich heißen Kakao umgeschüttet und alles ist auf meine nackten Schenkel gespritzt. Ich habe nichts gespürt. Gar nichts. Meine Mom hat sich fast die Hand verbrannt, weil sie versucht hat, den Becher zu fangen. Aber ich habe nichts gespürt. Komisch, oder? Ich glaube, ich kann mir sogar mit einem Messer in den Schenkel stechen, ohne dass ich etwas spüre. Aber das habe ich noch nicht ausprobiert. Mom sagt, ich darf das auch nicht ausprobieren, weil ich dann nicht spüre, wenn das Blut aus meinem Körper rinnt. Und ohne Blut kann ich nicht leben, hat mein Dad gesagt.
Meine Mom und mein Dad sind die allerallerbesten Eltern auf der Welt. Mein Dad muss den ganzen Tag arbeiten. Er ist Computerprogrammierer. Und meine Mom arbeitet am Vormittag und am Dienstag und Donnerstag am Nachmittag im Supermarkt in Castleton Corners. Da sitzt sie an der Kassa und knöpft den Leuten das Geld ab, sagt sie. Meine Mom ist sehr witzig . Sie hat blonde Haare und sie sagt, ich habe meine Haare von ihr. Ist ja auch klar. Mein Dad hat nämlich keine Haare. Nur im Gesicht. Das kitzelt immer so, wenn er mir ein Küsschen auf die Wange drückt. Und er drückt mir immer ein Küsschen auf die Wange. In der Früh, wenn er in das Büro fährt, und am Abend, wenn er wieder heimkommt. Dann hebt er mich aus dem Rollstuhl und setzt sich mit mir auf die Couch. Jeden Tag sagt er, dass ich größer und schwerer geworden bin. Aber das glaube ich ihm nicht. Oder kann man an einem Tag größer und schwerer werden? Nein. Bestimmt nicht. Aber ich lache dann immer, weil mein Dad dann auch lacht. Und meine Mom auch. Es ist so schön, wenn wir alle lachen. Das war nämlich nicht immer so. Mom hat nach meinem Unfall oft geweint. Sie glaubt, ich weiß das nicht, aber ich habe es genau gehört. Aus dem Schlafzimmer, wenn ich aufgewacht bin. Mom hat geweint und Dad hat immer Pscht gesagt. Ich weiß nicht, warum sie geweint hat, aber ich glaube, es war meine Schuld. Ich habe nämlich immer wieder gehört, wie sie Patricia gesagt hat und dann hat sie wieder laut geweint. Ich
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