Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Tagebuch der Patricia White (German Edition)

Das Tagebuch der Patricia White (German Edition)

Titel: Das Tagebuch der Patricia White (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gian Carlo Ronelli
Vom Netzwerk:
vierzehn. Aber so alt und schmutzig es auch war, so vertraut war es. Wie die Steppdecke, die mir im Winter Wärme gab. Ohne sie wäre ich erfroren, da sich in diesem Raum keine Heizung befand.
    Das Zimm er lag ostseitig . Ab und zu stellte ich mir morgens vor, wie die Sonne durch das Fenster schien, die blutrote Scheibe in den Himmel stieg und mir zurief: »Jacky, raus aus den Federn! Heute wird ein guter Tag!«
    Aber die Sonne schien nicht durch das Fenster. Weil es in diesem Raum kein Fenster gab. Es war eine Vorratskammer mit einer Liege. Auch in dieser Nacht, als die Dunkelheit mich auffraß .
    I ch griff neben das Bett, berührte etwas Kaltes und Nasses. Reflexartig zog ich die Hand zurück, versuchte mir einzureden, dass dort, keinen halben Meter von meiner Liege entfernt, nichts war. Es war nur die Kälte und die Dunkelheit, die mich glauben machte n , gegen etwas gestoßen zu sein. Aber ich traute mich nicht, es herauszufinden. Ich versteckte mich unter der Decke und hielt den Atem an. Mein Herz pochte in den Schläfen. Schnell und hastig. Und es gab nur eine Person, an dich ich mich wenden konnte.
    Any? Bist du da?
    Ich bin doch immer da, Jacky.
    Ich habe Angst. Da ist etwas in meinem Zimmer. Ist es der Wolf?
    Any wusste immer, was zu tun war. Sie war in mir. In meinem Körper. Sie war mir näher, als alles andere auf dieser Welt. Und manches Mal hatte ich das Gefühl, dass nicht Any in mir, sondern ich in ihr war.
    Nein, Jacky. Kein Wolf. Aber um das herauszufinden, musst du die Augen öffnen und die Hand ausstrecken.
    Ich vertraute Any. Auch wenn ich unheimliche Angst davor hatte, die Decke von meinem Kopf zu ziehen und die Hand in diese muffige Dunkelheit zu strecken. Aber Any würde mich keiner Gefahr aussetzen. Any war ich – und ich war sie. Sie würde mir sagen, falls der Wolf in meinem Zimmer gewesen wäre.
    Ich wusste nich t genau, wann ich angefangen hatt e mit Any zu reden. Wahrscheinlich hatte ich es seit jeher getan. Auch vor meiner Geburt. Any war immer schon da. Sie war meine Zwillingsschwester. Meine Mutter hatte mir erzählt, dass ich nicht allein in ihrem Bauch war. Es gab ein Schwesterchen. Und sie war eng mit mir verbunden, mit mir verwachsen. An der Brust. Wir hatten ein gemeinsames Herz. Mein Herz. Es war kurz vor der Geburt, als Any entschied, nicht in diese Welt geboren werden zu wollen. Sie verzichtete zu meinen Gunsten. Als Mutter mir das erzählte – ich war zehn oder so – weinte sie. Ich wusste, dass sie wegen Any weinte. Dass sie Any vermisste. Aber da war noch etwas anderes. Etwas, das sie nicht gesagt hatte. Aber ich hatte dieses Bild gesehen. Das Bild einer hochschwangeren Frau, die sich vor Schmerzen auf dem Boden wälzte und blutige Arme um ihren Bauch schlang. Und der Werwolf stand grinsend neben ihr.
    Ich wusste, dass Any nicht aus freiem Willen gestorben war. Any hatte mich beschützt. Any hatte sich über mich gelegt, als die Bauchdecke mich zu erdrücken drohte. Any war gestorben, damit ich leben konnte.
    Dass Any da war, war für mich selbstverständlich. Sie war sie. Ich brauchte keinen Namen, so wie a uch Mutter und Vater keine Namen hatten. Sie waren einfach nur Mom und Dad. Doch irgendwann wollte ich sie rufen, hatte aber nichts, wonach ich rufen hätte können. Als sie schließlich dennoch kam, fragte ich sie nach ihrem Namen.
    Ich habe keinen Namen, Jacky. Es hat mir niemand einen gegeben.
    Dann gebe ich dir einen.
    Any lachte.
    Wie willst du heißen?
    Any lachte immer noch.
    Jetzt sag schon.
    Gib mir einfach irgendeinen Namen.
    Irgendeinen?
    Genau.
    Dann heißt du ab sofort Any.
    Wieder lachte sie.
    Any klingt gut.
    Es war das Lachen eines Mädchens, das soeben ein Geschenk erhalten hatte. Nicht irgendein Geschenk, sondern eines, das sie sich ihr ganzes Leben sehnlichst gewünscht hatte.
    Any war immer für mich da. Any hatte mich immer beschützt. Und sie würde es auch jetzt tun, wenn ich die Decke von meinem Gesicht ziehen und die Hand in die Dunkelheit strecken würde .
    Die Finsternis schien dichter geworden zu sein, schien wie zähflüssiger Schleim an mir zu kleben, als ich die Finger in den Raum streckte. Jeden Moment rechnete ich damit, dass scharfe Zähne zubissen, dass meine Hand etwas Ekelhaftes berührte. Und das tat sie auch. Es war nass und kalt. Aber dieses Mal zuckte ich nicht zurück. Denn was immer diese Kälte und Nässe verursachte – es hechelte. Hastig. Aufgeregt. Zu dem Hecheln mischte sich leises Quieken. Dann schleckte eine Zunge

Weitere Kostenlose Bücher