Das Tagebuch der Patricia White (German Edition)
habe mir dann ganz fest vorgenommen, dass ich immer brav bin. Ich will nämlich nicht, dass meine Mom weint. Ich will, dass sie lacht. Und jetzt lacht sie ganz oft. Und das ist schön.
Jetzt ist es schon spät und meine Mom wird gleich ins Zimmer schauen und mir sagen, dass es Zeit ist, an der Matratze zu horchen. Dann lache ich wieder, weil meine Mom so witzig ist, und ich sage zu ihr, dass ich vorher noch eine Runde joggen gehe. Joggen, verstehst du? Ich kann ja gar nicht joggen. Und dann lachen wir beide. Mom und ich. Oh, ich höre sie schon auf der Treppe. Tschüss, liebes Tagebuch, bis morgen.
Ich hätte schon früher darauf kommen müssen. Schon als ich den Namen Patricia White las. Ich wusste es, und doch stellte ich mir – mehr als Alibihandlung vermutlich – die Frage, ob dieses blondgelockte Mädchen aus meinen Wahnvorstellungen Patricia gewesen war. Natürlich war sie es.
Als sie sich selbst beschrieben hatte, erschien wieder dieses Bild vor mir. Ihre verheulten Augen , d er Mund, der einen Schmerzensschrei ausstieß, die Tränen, die ü ber ihre Wangen liefen, f lammendes Orange, das sich in ihren Augen spiegelte. J etzt sah ich sie in einem Rollstuhl sitzen. Sie trug ein hellblaues Sommerkleid. Es reichte bis knapp über die Knie. Dünne Beine mündeten in blauen Ballettschuhen, die auf den Fußrasten ihres Rollstuhls ruhten. Die Finger krallten sich in die Armlehnen. Es wirkte seltsam. Sie schrie vor Schmerz, krallte aber die Finger nur in die Lehnen. In Anbetracht ihres Gesichtsausdruckes hätte man erwartet, dass sie um sich schlägt und versucht sich aus dem Rollstuhl zu drücken. Doch sie saß nur da und krallte die Finger in die Lehnen.
D azu spielte diese Melodie. Somewhere over the rainbow. Sie tönte von einer Spieluhr. Laut und durchdringend. Sie passte nicht in dieses Bild. Würde Patricia friedlich schlafen, dann würde diese Melodie passen. Aber nicht in dieses Bild. Nicht in diesen Schmerz, in dieses Entsetzen und diese schreiende Angst.
Ich konnte nur das Mädchen sehen. Wie es in ihrem Rollstuhl saß und vor Schmerz brüllte. Im Gegensatz zu dem Bild meines toten Bettnachbarn, wo ich eine Gesamtaufnahme gesehen hatte . Dennoch glaubte ich – viel mehr fürchtete ich – , dass auch das Bild mit Patricia eine Art Vision war, wie immer sie auch in mein Gehirn gekommen sein mochte. War das der Grund, warum ich dieses Tagebuch in meinen Händen hielt? War Patricia in Gefahr? Vielleicht versuchte Any mir genau das mitzuteilen, mit all den Halluzinationen, dieser Melodie, dem Tagebuch, von dem ich nach wie vor überzeugt war, dass von ihm Gefahr ausging. Oder irrte ich mich? Any hatte doch auch damals, als Tommy aus meinem Leben gerissen wurde, kein Bild geschickt. Also warum sollte sie es jetzt tun?
Weiters fragte ich nach de m Sinn dieser Bilder. Der Mann, zum Beispiel. Ich hatte gesehen, dass er sterben würde, konnte es aber nicht verhindern. Oder hätte ich es verhindern können? Vielleicht ja, vielleicht nein. Was wäre geschehen, wenn ich Cindy darauf hingewiesen hätte, dass der Mann neben mir ersticken wird? Hätte sie einen Arzt gerufen? Hätte sie Vorkehrungen getroffen, um seinen Tod zu verhindern? Wahrscheinlich nicht. Wie ging jemand mit einer derartigen Information um? Dass der Mann sterben würde, war offensichtlich. Dass er ersticken würde, auch. Und dass er heute sterben würde, hatte selbst ich nicht gewusst. Nur die Art und Weise – und auf die Idee wären auch Cindy und die Ärzte gekommen.
Doch was war mit Patricia White? Auch da hatte ich keinen Anhaltspunkt, wann und wo was passiere n würde. Ich sah sie nur i m Rollstuhl sitzen und schreien. War es dieses Bild, das den Anstoß zu einer Kettenreaktion gab, die letztlich dazu führte, dass ich jetzt hier lag? Mit einer Schussverletzung, ohne Erinnerung? Und einem Tagebuch, dessen Inhalt mich in Patricias Leben führte. Tief hinein in ihre Geheimnisse und Gefühle. Vielleicht war das der Schlüssel, der mir eine Tür öffnete, um das Mädchen retten zu können. Ein Schlüssel, der sich jetzt auf nicht erklärbare Weise in meinen Händen befand. Denn eines war mir klar: Wie bei dem erstickten Mann würde auch dieses Bild mit dem Tod enden. Patricia würde sterben, grausam zu Grunde gehen, wenn ich nicht rechtzeitig herausfand, was wann und wo geschehen würde.
Ihr Leben lag in meinen Händen. Und ich blätterte zum nächsten Eintrag.
Liebes Tagebuch,
ich bin so aufgeregt! Weißt du warum? Ich bekomme
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