Das Tagebuch der Patricia White (German Edition)
gewesen, das Schloss aus der Verankerung zu treten – doch nur, wenn ich an der Außenseite gestanden wäre. Hier im Zimmer blieb nur der Weg durch das Fenster.
Ich schob den Vorhang zur Seite. Der Hebel war abmontiert worden. Ich fand keine Möglichkeit, das Fenster zu öffnen. Zumindest nicht, ohne es zu zerstören.
Die Scheibe zerbrach beim ersten Versuch und fiel in groben Splittern nach außen – gefolgt vom Camping-Tisch. Ich wickelte den Vorhang um meine Hand, boxte die Reste der Scheibe durch den Rahmen und schob den Stuhl unter das Fenster. Der Oberschenkel brannte, als ich auf die Sitzfläche stieg und das Bein auf das Fensterbrett stellte. Eiter rann aus der Wunde, die bei Tageslicht aussah, als hätten tatsächlich Ratten daran genagt. Sie war kreisrund, etwa zwei Zentimeter im Durchmesser, und erinnerte an einen Meteoritenkr ater auf dem Mond. Gelbroter Schleim füllte sie aus , wobei die Haut am Kraterrand eine blaue Färbung aufwies.
Der Plan, aus dem Fenster zu springen, änderte sich spontan, da die Schmerz en zu groß waren. Ich setzte mich daher auf das Fensterbrett, schwenkte zuerst das gesunde Bein aus dem Raum und hob das andere vorsichtig nach. Nach ein em kurzen, schmerzhaften Sprung stand ich auf der Veranda vor einem rostroten Chevrolet. Ich humpelte zur Fahrertür und zog an der Türschnalle. Abgeschlossen. Auf dem Fahrersitz lag ein beschriebenes Blatt Papier. Die krakelige Handschrift war schwer lesbar, aber letztlich konnte ich die Buchstaben entziffern.
Schlüssel sind bei der Rezeption abzuholen. R.
Rezeption? Ich blickte mich um. Eine Schotterstraße zog sich in einer leichten Rechtskurve zu einem asphaltierten Parkplatz, gesäumt von etwa zwanzig einfachen, baugleichen Holzhütten mit Flachdach , jede in einem aufdringlichen R ot gestrichen. An den Türen prangten schwarze Zahlen. Auf dem Parkplatz, neben einer Bundesstraße, die schnurgerade an dem Motel vorbei zog, stand eine Baracke, gr ün gestrichen, mit einem großen, roten R an der Tür. Vermutlich handelte es sich dabei um die Rezeption .
Das Motel war spärlich belegt. Nur vier Wagen, inklusive meinem, standen auf den geschotterten Parkflächen vor den Hütten. Die Vorhänge waren zugezogen und auch sonst war außer dem Knirschen der Kieselsteine unter meinen Schuhsohlen nichts zu hören . Doch je näher ich zur Rezeption kam, um so lauter wurde ein rhythmisches Dröhnen, das sich letztlich als Radiomusik herausstellte. Ich drückte die Holztür nach innen und trat ein.
Die Rezeption war eine Kammer. Bretter und Pfosten lagerten seitlich der Eingangstür. Offenbar Reparaturmaterial für die Hütten, da auch drei Farbeimer daneben standen, an deren Rändern das aufdringliche Rot der Hütten in eingetrockneten Tränen zu erkennen war. Ein Schrank bildete das hintere Ende des Raumes. Davor befand sich ein kleiner Schreibtisch, auf dem zwischen einem Chaos von Magazinen und Papieren ein Computermonitor und ein Radio standen. Hinter dem Schreibtisch saß ein Mann mit kräftiger Statur und offensichtlich mexikanischer Herkunft. Er kaute mit offenem Mund und starrt e gebannt auf den Monitor. K urz blickte er auf und winkte mir mit fettigen Fingern zu.
»Bin gleich bei Ihnen Mister Reynolds«, sagte er laut, übertönte dennoch kaum die nervende Country-Musik und lächelte in den Monitor.
Ich ging langsam auf den Schreibtisch zu.
»Ja, Baby. Gib‘s ihr! «, schrie er und zwinkerte mir zu.
Ich stützte mich auf der Tischplatte ab. Eine der Schranktüren stand einen Spalt offen. Silberne Schlüssel blitzten aus dem Dunkel hervor.
»Mein Autoschlüssel«, sagte ich und nickte zu dem Schrank.
Offensichtlich genervt drückte der Mann auf die Tastatur und lehnte sich dann weit in den Sessel zurück, als hätte der Klang des Wortes Autoschlüssel eine entspannende Wirkung auf ihn gehabt. Er grinste breit und präsentierte mir die Brotreste an seinen übergroßen Schneidezähnen.
»Unvorsichtig, unvorsichtig«, sagte er und verschränkte die Arme. »Habe bei meinem Rundgang gesehen, dass der Schlüssel steckt. Ist viel Gesindel unterwegs hier . «
Ich nickte und fragte mich, wie dieser Mann auf die Idee kommen konnte, nachts in Fahrzeuge n zu überprüfen , ob Schlüssel steckten. Sehr nächstenlieb sah mir der Kerl nicht aus. Vermutlich hatte diese Aktion nur den einen Zweck, die miesen Einkünfte durch finanzielle Dankesbekundungen ein wenig aufzubessern. Er zog eine Schublade auf, in der Fünf- und Zehndollarnoten zum
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