Das Tagebuch der Patricia White (German Edition)
sich dabei um eine Brandverletzung handeln musste.
Es fühlte sich seltsam an. Wieder und wieder musste ich mir klar machen, dass diese Augen, diese Nase, diese schulterlangen Haare und diese Narbe mir gehörten. Dass dieser Mann ich war. Ich. Und nicht jemand, den ich gerade eben kennengelernt hatte. Ich fand mich weder schön noch hässlich. Mein Aussehen war mir schlicht egal. Es löste auch keinerlei Erinnerung in mir aus, wer ich war, wie ich hieß oder etwas, das mir in welcher Weise auch immer weiterhalf. Aber es löste ein Gefühl aus. Tief in mir. Hass. Wie die Stimme in meinem Kopf hasste ich auch dieses Gesicht.
Eine Bewegung. Ein Schatten. Auf dem Teppich im Zimmer. Durch den Spalt zwischen Badezimmertür und Wand deutlich zu erkennen. Ich stieg zur Seite und riss die Tür auf. Ein Stich im Oberschenkel erinnerte mich an meine Verletzung, doch ich verdrängte den Schmerz und starrte auf die Eingangstür, den Campingtisch, das Bett.
Nichts.
Ich drehte den Knauf der Zimmertür. Abgeschlossen. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass der Schatten sich völlig lautlos bewegt und auch keine Zeit gehabt hatte, Türen zu öffnen, zu schließen und abzusperren. Abgesehen davon hätte ich etwas hören müssen. Schritte, einen Schlüssel im Schloss, das Klacken der Tür. Aber da war nichts. Hatte ich mich geirrt? Nein. Dieser Schatten war Tatsache. Wie ein Geist war er an der Badezimmertür vorbeigehuscht.
Und da war noch mehr. Eine Melodie. In meinem Kopf. Mit dem Klang einer alten Spieldose. Ich kannte diese Töne. Aber ich hatte keinen Bezug zu einem Titel oder einer dazupassenden Szene. Ich konnte die Melodie summen, aber ich wusste nicht, wo ich sie gehört hatte. Ich wusste nur, dass sie ein Teil meiner verlore n gegangenen Erinnerung war u nd als hätte ich Angst, sie wieder zu vergessen , fing ich an , sie zu pfeifen. Wiederholte sie, bis meine Lippen völlig ausgetrocknet waren und der Durst sich wieder in mein Bewusstsein drängte. Ich holte das Glas vom Nachtkästchen, wusch es sorgfältig aus und füllte es mit Wasser. Dann trank ich, als wäre es flüssiges Leben, das durch meine Kehle in den Körper floss. Ich konnte nicht aufhören. Wieder und wieder füllte ich das Glas, bis mein Blick auf die Jacke fiel. Vielmehr auf die Brieftasche, die in der Innenseite steckte. Ich stellte das Glas hastig auf den Waschbeckenrand und griff nach dem Portemonnaie .
Das schwarze, abgegriffene Leder fühlte sich vertraut an. Im Geldfach steckten ein Fünfziger, zwei Zwanziger und ein paar Fünf- und Eindollarnote n. Das Fotofach war leer. D aneben entdeckte ich, wonach ich gesucht hatte. New York State - Enhanced Drivers Licence. Auf dem Bild war jener Mann abgebildet, der mich noch vor Minuten aus dem Spiegel angestarrt hatte. Er hieß Jack Reynolds. Ich hieß Jack Reynolds. Mein Herz klopfte, als hätte ich soeben eine Art von göttlicher Erscheinung gehabt. Ich hielt meine Identität in Händen. Mein Geburtstag. Der 18. September 1979. Ich überlegte, wie alt ich demnach sein musste, scheiterte aber daran, dass ich nicht wusste, in welchem Jahr ich mich befand. Meine Adresse. 538 Grand Street, New York City. Ich hatte eine Wohnung. Oder ein Haus? Egal. Was immer sich an dieser Adresse befinden würde – dort würde ich mehr über mich erfahren.
Ich steckte den Führerschein in die Geldtasche zurück. Im Schlitz darunter steckte eine Kreditkarte. Mastercard. Demnach musste ich auch einen Job haben, ein Konto, Geld. Mehr als diese hundert Dollar.
Ich zog die Jacke über und griff nach dem Türknauf, erinnerte mich aber im gleichen Moment daran, dass die Tür abgeschlossen war. Der Schlüssel. Wo befand sich dieser verfluchte Schlüssel?
Hosen- und Jackentaschen waren leer. Ich humpelte zum Nachtkästchen. Nichts, ausgenommen dem Radio u nd der Bibel in der Schublade. Auch im Kästchen am anderen Bettrand befand sich kein Schlüssel. Ich suchte am Boden, im Badezimmer, deckte das Bett ab, hob die Matratzen vom Lattenrost. Nichts. In diesem Zimmer befand sich kein Schlüssel.
»Scheiße«, murmelte ich und erschrak. Meine Stimme. Sie klang vertraut. Dennoch hatte ich das Gefühl, sie soeben das erste Mal gehört zu haben. Ich wiederholte das Wort wieder und wieder. Heiser und rau, tief und brummig hallte es in dem Zimmer dumpf nach. Wieder überkam mich dieses aufwühlende Gefühl. Ich hasste es, mich reden zu hören. So, wie ich mein Gesicht hasste.
Die Tür sah nicht besonders stabil aus. Es wäre ein Leichtes
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