Das Tal Bd. 7 - Die Jagd
können. Niemand wundert sich, dass ich völlig außer Atem bin und keuche. Vielleicht bin ich ja unsichtbar. Ich ziehe den Rucksack von den Schultern, um die Kamera laufen zu lassen, und stoße dabei an einen Typen, dessen Haare bis auf die Schultern reichen. Er ist nicht der Einzige, der schon länger nicht mehr beim Friseur gewesen war. Vom Indianerlook bis hin zu Rastalocken ist alles vertreten. Vielleicht handelt es sich um eine Sekte, denn was Mode betrifft, sind die Leute nicht auf dem neuesten Stand. Ein Mädchen, das am Kamin lehnt, eine riesige braune Tasse in der Hand, trägt sogar einen faszinierenden Häkelrock bis hinunter zu den nackten Füßen. Zumindest denke ich, dass das schrille Teil gehäkelt ist, obwohl ich selbst noch nie jemanden getroffen habe, der noch häkelt.
Der Typ mit den langen Haaren starrt ziemlich lange auf meine Kamera: Ihm fallen fast die Augen hinter der Nickelbrille heraus: »Was ist das denn?«, fragt er.
Okay, ich bin nicht unsichtbar.
Aber vielleicht ist er blind.
»Eine Kamera, was sonst«, erwidere ich. »Manche nennen es auch Camcorder.«
»Verarschen kann ich mich selbst«, erwidert er, zieht ein Päckchen Tabak aus der Hose – eine Jeans, die unten so weit ist, dass er vermutlich bei jedem Schritt über die ausgefransten Enden stolpert.
Er ist nicht der Einzige, der hier raucht. Eine Rauchwolke schwebt über der Halle und der Gestank von Nikotin erfüllt die Luft und … damit kenne ich mich aus … der von Gras.
Ich muss lachen. Jetzt gefällt er mir, der Trip.
»Was gibt es da zu lachen?« Ein Mädchen mit langen Zöpfen betrachtet mich und ihr Blick wird zornig. Ihre nackten Beine sind so lang, dass der kurze Lederrock die Oberschenkel nur knapp berührt. Das wäre was für Debbie. Sie würde umwerfend darin aussehen. Und wieder grinse ich.
»Hör auf zu grinsen«, faucht sie. Auch in ihrer Hand liegt eine Schachtel Zigaretten. Eine Marke, die ich nicht kenne. »Das ist nicht lustig.«
»Was?«
»Du hast es wohl noch nicht gehört?«
»Was?«
Sie kommt zu mir rüber. »Sie sind alle verschwunden.«
»Wer?«
»Kathleen, Milton und …« Scheiße, sie fängt an zu heulen. »Paul.«
Nein. Das ist wirklich nicht lustig. Nicht, dass sie verschwunden sind, das weiß ich ja, sondern dass dieser eine Joint mich offenbar zurückgebeamt hat. Wieder einmal. Doch diesmal bin ich definitiv nicht in der Hütte auf dem Ghost gelandet. Wo bin ich also? Oder besser … wann spielt das hier?
»Kannst du mich mal anfassen?«, frage ich blöd.
»Was?«
»Existierst du wirklich?«
»Du solltest das Zeug nicht rauchen, wenn du es nicht verträgst«, faucht sie erneut.
Da hat sie natürlich recht, aber dafür ist es jetzt zu spät. Ich bin mittendrin in der Welt der Halluzinationen und weiß nicht, ob es nicht besser wäre, Farben zu sehen oder Wände, die sich ausdehnen, anstelle dieser Bilder, die sich so real anfühlen, dass sich mir die Haare stellen.
»Spendierst du mir eine?« Ich deute auf die Packung Zigaretten.
Sie streckt sie mir wortlos entgegen. »Das macht einen total fertig, oder?«
Ich nicke.
Wie wahr.
Sie reicht mir ihr Feuerzeug. Ich zünde die Zigarette an und beim ersten Zug muss ich husten. Das Ding ist so stark, ich wundere mich, dass ich nicht abhebe. Um am Boden zu bleiben, schaue ich mich weiter im Raum um. Mein Blick bleibt an einer großen Marmortafel an der Längsseite der Halle hängen, in die mit goldenen Lettern der Spruch graviert ist: Vincit qui se vincit – Es siegt, wer sich besiegt.
Unter der Tafel stehen zwei Männer, die sich unterhalten. Sie kommen mir bekannt vor, obwohl sie ungleicher nicht sein könnten. Der eine ist korrekt gekleidet bis zur weißen Spitze des Taschentuchs, das aus der Anzugtasche ragt. Der andere, der ihn zwei Köpfe überragt, trägt Jeans und ein kariertes Holzfällerhemd. Die Gesichtszüge und die rabenschwarzen, zum Pferdeschwanz gebundenen Haare erinnern an Chief Bromden aus dem Film: Einer flog übers Kuckucksnest.
»Wer sind die beiden dort?«, frage ich das Mädchen und bemerke, wie die Zigarette in ihrer Hand zittert.
»Wer?«
»Die beiden dort unter der Marmortafel.«
Sie sieht mich verwundert an. »Bist du neu hier?«
»Kann schon sein.«
»Das ist der Dean. Callum Gray. Hat er dich noch nicht empfangen? Macht er normalerweise mit jedem Studenten. Das ist ja das Besondere am Solomon College. Wir sind nicht nur eine Nummer. Wir sind alle Individuen.«
David, schießt es mir durch den
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