Das Tal Bd. 7 - Die Jagd
funktioniert immer.
Mit zwei großen Schritten bin ich beim Schreibtisch und reiße die Tür so heftig auf, dass sie fast aus den Angeln fällt. Alles kommt mir entgegen, als hätten die in die Fächer gestopften Ordner, Zettel und Bücher nur darauf gewartet, ihrem Gefängnis zu entkommen. Wie ich.
Auch wenn meine Gedanken vor wenigen Sekunden noch so kompliziert und verworren waren wie das U-Bahnnetz von … was weiß ich … Tokio, dann sind sie jetzt glasklar. Ich ziehe den Mathematikordner hervor und schneide mich dabei an der scharfen Spitze einer Schere, die gleichzeitig herausfällt.
Ich lege Papier, Tabak, Filter zurecht und lasse mich auf das Bett fallen.
Noch habe ich nicht vergessen, was Ronnie mir beigebracht hat. Der Joint ist so perfekt, dass ich ihn am liebsten rahmen würde. Allerdings – stelle ich fest – hat er sich rot gefärbt von dem Blut, das meine Hand hinunterläuft.
Shitegal, denke ich.
Und das Lachen, das jetzt in mir hochsteigt, ist einfach nur irre.
Ich greife nach dem Feuerzeug, starre für einige Sekunden in die Gasflamme und genieße den Moment.
Was ich tue, ist falsch.
Ich weiß es.
Aber manchmal ist es richtig, das Falsche zu tun.
Langsam zünde ich den Joint an, genauso wie Ronnie es mir beigebracht hat. Im ersten Moment treibt mir der Rauch Tränen in die Augen. Ich bin einfach nicht mehr daran gewöhnt. Aber man verlernt es nie, denke ich. Wie Schwimmen. Wie Fahrradfahren. Und als ich den ersten Zug nehme, fühlt es sich so alltäglich an wie Zähneputzen.
Es dauert nur drei Züge, bis ich die erste Wirkung spüre. Und sie ist der helle Wahnsinn. Die Wände des Zimmers biegen sich auseinander und die Wolkenberge, die sich über dem See zusammenschieben, rasen auf mich zu. Ich gehe einfach durch sie hindurch auf den Horizont zu, über dem sich die Erdachse zu einem Halbkreis biegt, und ich sehe mich selbst, wie ich auf der Erdkugel entlanglaufe.
Keine Angst, denke ich, so schön kann es sein, wenn die Welt untergeht.
Stairways from Heaven
H atte sich zuvor alles aufgelöst, so setzt sich die Welt jetzt wieder neu zusammen. Der Horizont verschwindet, die Mauern und Wände kehren zurück. Obwohl alles mir seltsam vertraut erscheint, kann ich mich nicht erinnern, je in diesem Gebäude gewesen zu sein. Ich stehe vor einer Treppe, die nach unten führt, und hinter mir erstreckt sich ein langer düsterer Gang. Ich wundere mich nicht, weil Wunder in meinem Zustand sozusagen inbegriffen sind. Alles scheint möglich. Alles Gute. Alles Böse. Nur kann man es selbst nicht entscheiden. Auch nicht, ob ich die Treppe nach unten steige oder nicht. Ich weiß, es gibt keine andere Wahl.
Die Steinstufen sind angenehm breit und die Wände bis zu einer Höhe von etwa einem Meter mit Steinplatten verkleidet, während darüber lediglich ein weißer Kalkputz die Mauern bedeckt. Ich muss mich im Innern eines Gebäudes befinden, denn es gibt keine Fenster, stattdessen schlichte, quadratische Deckenlampen, die mit dunklem Holz eingefasst sind und ein trübes Licht spenden.
Meine Hoffnung, in ein anderes Stockwerk zu gelangen, erfüllt sich nicht. Hinter jeder Kurve, die die Treppe macht, erstrecken sich weitere Stufen. Ich beginne, sie zu zählen, doch als ich bei hundert angelangt bin, verliere ich die Geduld. Dazu habe ich das Gefühl, beobachtet zu werden. Erschrocken drehe ich mich um, aber da ist niemand. Unwillkürlich werde ich schneller, bis ich in einen nervösen Laufschritt verfalle. Um nicht zu stolpern, stütze ich mich immer wieder an der kalten, klammen Wand ab, dennoch gerate ich ins Rutschen. Mein Herz setzt aus und dann schlägt es in dreifachem Tempo, ja, es hämmert geradezu. Meine Beine zittern und ich lasse mich einen Moment auf die Stufen sinken. Doch gleich darauf ist dieses Gefühl wieder da: Jemand ist hinter mir. Ich zwinge mich, regungslos sitzen zu bleiben, erstarre geradezu in meiner Haltung, während ich lausche. Ich versuche, irgendein Geräusch einzufangen. Schritte, der leise Ton, wenn jemand Luft holt, Schuhe, die bei jedem Schritt leise knarzen. Aber da ist nichts.
Und genau das sage ich auch zu mir: Benjamin, da ist nichts.
Doch als ich wieder aufstehe, mein Blick für den Bruchteil einer Sekunde über meine Schulter fällt, stockt mir der Atem. Das Licht lässt den lang gezogenen Schatten, der über die Wand wandert, überdeutlich werden, doch als wüsste er, dass ich ihn gesehen habe, verschwindet er sofort wieder.
Ganz klar. Jemand verfolgt mich.
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