Das Tal Bd. 7 - Die Jagd
Furcht, als die Polizei uns an der Tankstelle schnappte. Die Angst, als Ronnie mich anspuckte, der Horror, den ich durchlebte, als ich begriff, dass Mom tatsächlich gestorben war, und die Panik jetzt, weil ich einfach nicht weiß, was ich tun soll.
Die Tür zu meinem Zimmer steht noch immer offen, als ich zurückkehre. Von den anderen ist nichts zu sehen. Ich bin völlig allein im Apartment.
Das Formular liegt auf dem Bett, wo ich es vorhin hingeworfen habe. Und daneben der handgeschriebene Brief. Er starrt mir entgegen und wartet nicht nur auf eine Reaktion, sondern sogar auf eine Antwort.
Lieber Benjamin, wenn du das hier liest, wirst du wissen, dass deine Eltern dich adoptiert haben.
Scheiße, Scheiße, Scheiße.
Ziellos laufe ich im Zimmer umher, eine mir völlig fremde Wut steigt in mir hoch, da bin ich Dad offenbar ähnlich … Dad?
Warum hast du es mir nicht erzählt? Warum hast du es mir verschwiegen, obwohl es Moms letzter Wunsch war?
Mein Zorn wird mit jedem Schritt größer. Ich bin wütend auf Mom, weil sie gestorben ist, zornig auf Dad, weil er mir die Wahrheit verschwiegen hat, und vor allem hasse ich diese unbekannte Frau, die es wagt, mir einen Brief zu schreiben.
Meine leibliche Mutter, wenn ich dem amtlichen Schreiben glauben darf.
Ihre Worte klingen fremd, sperrig. Sie schreibt: Lieber Benjamin. Und: Ich wäre so glücklich, wenn du dich mit mir treffen würdest . Oder: Es tut mir leid .
Hohle Phrasen in bühnenreife Sprache gepackt. Ich zerknülle den Brief und werfe ihn in den Papierkorb. Der Brief interessiert mich nicht. Diese Frau interessiert mich nicht. Sie ist nicht mehr als ein Genpool. Ein halber Genpool, schießt mir durch den Kopf. Sie hat mich schließlich nicht allein gezeugt. Da gab es noch den, der großzügig die restlichen Chromosome gestiftet hat, damit ich zu dem werden konnte, der ich bin. Und der sich offenbar noch weniger interessiert als diese Frau, die mich zur Welt gebracht hat. Ich meine, was erwartet sie? Erst konnte sie mich nicht früh genug loswerden und dann schreibt sie diesen Brief, angeblich, weil sie mit mir in Kontakt treten will.
Ich beginne zu rechnen. Ich wurde am 05. Mai 1992 geboren und einen Tag später hielten Mom und Dad mich schon im Arm. Ich wurde ihnen am 06. Mai ausgehändigt wie ein Paket. So steht es in der Adoptionsurkunde.
Und nun will diese Unbekannte mich treffen. Das ist doch genauso absurd, wie wenn Abercrombie & Fitch zu dir nach Hause kommt, um zu sehen, was aus seinen Klamotten wurde. Okay, denen würde ich es sogar zutrauen.
Ich hole ein paarmal tief Luft und versuche, einen klaren Kopf zu kriegen.
Das Letzte, was ich jetzt tun will, ist, Dad anzurufen. Nicht, weil ich stinksauer bin und schon gar nicht, weil ich Rücksicht auf ihn nehmen will. Nein, ich habe einfach keine Lust auf irgendwelche fadenscheinigen Erklärungen.
Nur, da gibt es noch eine andere Seite. Die kann ich nicht einfach so wegschieben, oder?
Ich denke daran zurück, wie Dad in der Intensivstation Tag und Nacht an meinem Bett gesessen hat. Später, in der Rehaklinik, hat er mich jedes Wochenende besucht. Und wenn die Bilder in meinem Kopf zu schlimm wurden, ich laut schrie, wenn die Panikattacken mich überfielen, ich weinte wie ein kleines Kind, weil der Schattenmann sich nicht vertreiben ließ – da war er da und hat mich festgehalten. Ohne ihn hätte ich es vielleicht gar nicht geschafft, wieder ins Leben zurückzufinden.
Meine Wut ist plötzlich verraucht. Dad wollte mich nur schützen, wollte nur das Beste für mich. Wie immer. Aber dass ich ihn verstehe, macht die Sache nicht leichter. Denn jetzt ist da niemand, den ich verantwortlich machen kann.
Zitternd sitze ich auf dem Bett. Meine Zähne klappern, als wären sie nicht echt. Ich könnte diesen Wisch natürlich einfach zerreißen. Auch so löst man Probleme. Schon habe ich die Urkunde wieder in der Hand und reiße einen Schlitz in den oberen Rand, als mir etwas Besseres einfällt. Etwas, was mich alles vergessen lässt. Auch wenn es bedeutet, dass ich wieder einmal einen Schwur brechen muss.
»Wirf eine Münze«, hatte Ronnie immer gesagt, wenn es darum ging, eine Entscheidung zu treffen. »Funktioniert immer.«
Tat es auch. Nur ging es dabei um so einfache Sachen wie:
rechts oder links?
Cola oder Bier?
Dennoch, im Bruchteil einer Sekunde ziehe ich eine Zehn-Cent-Münze aus der Hose, schüttele sie mehrfach in der geballten Hand und lasse sie auf den Boden fallen.
Tatsächlich. Es
Weitere Kostenlose Bücher