Das Tal der Angst
Flüchtigen in gelben Mänteln zu wimmeln.«
»Liebe Güte!« sagte Holmes teilnahmsvoll. »Doch nun, Mr. Mac und Mr. White Mason, möchte ich Ihnen einen sehr ernst gemeinten Rat geben. Als ich mich mit Ihnen dieses Falles angenommen habe, sind wir, wie Sie sich zweifellos erinnern, übereingekommen, daß ich Ihnen keine halbgaren Theorien präsentiere, sondern mich so lange zurückhalte und meine Ideen ausarbeite, bis ich davon überzeugt bin, daß sie stimmen. Aus diesem Grund teile ich Ihnen zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht alles mit, was mir durch den Kopf geht. Andererseits habe ich Ihnen faires Spiel zugesichert, und ich glaube nicht, daß es sehr fair wäre, wenn ich zuließe, daß Sie auch nur einen Augenblick länger als nötig Ihre Energie an eine fruchtlose Arbeit verschwenden. Deshalb bin ich heute morgen hier, um Ihnen einen Rat zu erteilen, und mein Rat läßt sich in fünf Worte fassen: Geben Sie den Fall auf«
MacDonald und White Mason starrten ihren berühmten Kollegen verblüfft an.
»Sie halten ihn für hoffnungslos?« rief der Inspektor.
»Ich halte
Ihren
Fall für hoffnungslos. Ich halte es nicht für hoffnungslos, die Wahrheit zu finden.«
»Aber dieser Radfahrer. Der ist doch keine Erfindung. Wir haben seine Beschreibung, seine Reisetasche, sein Fahrrad. Der Kerl muß irgendwo stecken. Warum sollten wir ihn nicht kriegen?«
»Ja, ja; natürlich steckt er irgendwo, und zweifellos werden wir ihn auch kriegen; aber ich möchte nicht, daß Sie Ihre Energie an East Ham oder Liverpool verschwenden. Ich bin sicher, wir finden einen kürzeren Weg zu einem Resultat.«
»Sie halten doch irgendwas zurück. Das ist nicht gerade fair von Ihnen, Mr. Holmes.« Der Inspektor war ärgerlich.
»Sie kennen meine Arbeitsweise, Mr. Mac. Ich halte etwas zurück, aber so kurz wie nur möglich. Ich möchte lediglich noch meine Details auf eine bestimmte Weise überprüfen, was sich rasch erledigen läßt, dann mache ich meinen Diener und kehre nach London zurück; meine Resultate überlasse ich Ihnen, zu Ihrer freien Verfügung. Ich verdanke Ihnen zu viel, als daß ich mich anders verhalten könnte, denn in meiner ganzen Laufbahn kann ich mich keiner ungewöhnlicheren und interessanteren Studie erinnern.«
»Also das ist mir wirklich zu hoch, Mr. Holmes. Wir haben doch gestern abend, als wir aus Tunbridge Wells zurückkehrten, miteinander gesprochen, und Sie waren mit unseren Ergebnissen im großen und ganzen einverstanden. Was ist denn seither passiert, daß Sie zu einer vollkommen neuen Ansicht des Falles gelangt sind?«
»Nun, wenn Sie mich schon fragen: Ich habe letzte Nacht, wie angekündigt, einige Stunden im Manor House verbracht.«
»Und? Was ist passiert?«
»Oh! Darauf kann ich Ihnen im Augenblick nur eine sehr allgemeine Antwort geben. Ich habe, nebenbei bemerkt, eine kurze, aber klare und interessante Abhandlung über das alte Bauwerk gelesen; sie ist für die bescheidene Summe von einem Penny beim Tabakhändler im Ort erhältlich.« Hierbei zog Holmes eine schmale, mit einer schlichten Gravur des alten Manor House verzierte Broschüre aus der Westentasche. »Es steigert den Reiz einer Untersuchung ungemein, mein lieber Mr. Mac, wenn man sich bewußt in die historische Atmosphäre seiner Umgebung einfühlt. Blicken Sie nicht so ungeduldig drein; ich versichere Ihnen, daß selbst eine so dürftige Darstellung wie diese ein Bild der Vergangenheit vor dem geistigen Auge erstehen läßt. Erlauben Sie mir, Ihnen eine Kostprobe zu geben: ›Im fünften Jahr der Regierung James’ des Ersten an der Stätte eines viel älteren Gebäudes errichtet, stellt das Manor House von Birlstone eines der schönsten noch erhaltenen Exemplare eines Herrensitzes mit eigenem Wassergraben …‹«
»Sie halten uns zum Narren, Mr. Holmes.«
»Tz, tz, Mr. Mac! – Das erste Zeichen von Reizbarkeit, das ich an Ihnen entdecke. Nun gut, ich will es nicht Wort für Wort vorlesen, wenn Sie das so heftig empfinden. Aber wenn ich Ihnen sage, daß sich hierin eine Darstellung von der Eroberung des Hauses durch einen parlamentstreuen Oberst 20 im Jahre 1644 findet; dann davon, daß sich im Verlaufe des Bürgerkriegs König Charles dort mehrere Tage versteckt hielt; und schließlich von einem Besuch Georges des Zweiten 21 , dann werden Sie zugeben, daß mit diesem alten Haus mannigfaltige interessante Ereignisse verknüpft sind.«
»Das bezweifle ich ja gar nicht, Mr. Holmes; aber das geht doch uns nichts
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