Das Tal der Wiesel
entlanggeklettert und hat den Vogel wieder hineingesetzt. Dabei hat er sein Leben riskiert. Und er hat das kleine Wiesel gerettet. Ich habe den Idioten sehr gern gehabt.«
Sie ließ den Hund wieder los. »Er hat geflucht wie ein griesgrämiger Dachs«, schluckte sie. »Aber es war nicht böse gemeint. Wie er diese alte Weide verflucht hat! Sie hat ihn mit auf ihren Weg genommen.«
»Er ist seinen eigenen Weg gegangen.«
»Vielleicht – ich habe noch ganz anderes erlebt.«
Der Mann zuckte mit den Achseln. Blätter murmelten vor sich hin. »Und Bäume sprachen«, ging es ihm durch den Kopf. Nun gut, es war seltsam: der Leichnam, ein Terrier mit dunklen Augenrändern, ein Lebensbaum, der für den Tod auf der Lichtung verantwortlich war. Eine sich grämende junge Zauberin. Er sah sich um, und eine Saatkrähe erwiderte mit ihrem seitlich gelegenen Auge seinen forschenden Blick. Irgend etwas bewegte sich in der Nähe des Sees. »Shakespeare«, erklärte er. »Wir haben es in der Schule gelesen. Es ist mir wieder eingefallen.«
»Ja?« Sie blickte mit verschwommenen Augen zu ihm auf.
»Man sah, daß Fels sich regt’ und Bäume sprachen.«
»Er hat auch oft gelesen. Er war ein ungehobelter, alter Kerl, aber er hat viele Bücher gelesen. Sie sind schmutzig, wo seine Finger entlanggeglitten sind. Ich habe sie gesehen, als ich saubermachte. Er ist ein Eigenbrötler gewesen.«
»Ein verschwiegener Mensch.«
»Ja, genau.« Ihre Stimme klang rauh. »Ein verschwiegener Mensch. Wilderer konnte mit einer Kupferschlinge einen Hecht fangen. Und Aale austricksen, ich habe ihn gesehen, wie er eine alte Sichel an einen Stock gebunden hat und auf Aalfang gegangen ist. Verstohlen wie ein Reiher war er, aber ein verantwortungsvoller Mann. Er nahm sich, was er brauchte, und nicht mehr – außer einigen Mahlzeiten, die er Vater und mir manchmal brachte. Er hat nichts verschwendet, nichts verschmutzt und keinen Platz, den Gott für die Tiere bestimmt hatte, zerstört. Er hat das Tal genauso verlassen, wie er es vorgefunden hat; es wimmelt hier immer noch von Tieren.«
»Und er ist gestorben, kurz bevor sich die Nerze hier ausbreiten.«
»Er hätte sie aufgehalten. Wenn er seine Kraft behalten hätte, wäre er mit ihnen fertig geworden.« Sie ging auf das Seeufer zu und kämpfte mit den Gefühlen, die plötzlich in ihr aufstiegen. »Dieser dämliche, alte Narr! Er hätte jetzt noch nicht zu sterben brauchen. Er hätte leben können, um meinen Kindern die Geheimnisse der Marsch und der Wälder zu zeigen.«
Der Mann nahm ihre Hand. »Man konnte ihm nicht helfen.«
»Verdammt«, schluchzte sie. »Was passiert nun? Es wird nicht mehr das gleiche sein; dieser verdammte Idiot.«
»Wir müssen jemandem Bescheid sagen.« Er drückte ihre warmen, weichen Finger. »Das müssen wir als nächstes tun.«
»Was wird aus Wilderers Häuschen?«
»Ich weiß nicht. Ich denke mir, daß es ein guter Platz für irgendein junges Paar sein könnte.« Er wartete, bis sich ihr Schluchzen gelegt hatte. »Etwas Farbe, eine neue Küche. Irgendein Paar, dem dieses Tal gefällt und das den Hund übernimmt. Das sich um den Garten und um den Hühnerstall kümmert …«
»Und sich erinnert?«
»Sich um die Geister kümmert.«
Es folgte ein Schweigen, und Kine, der aus der Höhlung der Silberweide starrte, sah das Paar, das sich im Mondsee spiegelte, das Mädchen in den Armen ihres Begleiters getröstet, der schließlich sagte: »Komm, ich bring’ dich nach Hause. Wir müssen telefonieren. Dann werde ich zurückkommen und zusammen mit ihm warten. Nimm mein Taschentuch – nach dem, was ich von ihm gehört habe, würde er es nicht gerne sehen, wenn du um ihn weinst.«
Kine beobachtete, wie sie davongingen. Für einen Augenblick blieb der Terrier zurück, dann, nachdem er herangerufen worden war, verschwand auch er, und es wurde ruhig im Wald. Nur das Scharren der Amseln, die in der Lauberde nach Raupen suchten, durchbrach die Stille. Wunder war eingedöst. Sie war den Menschen gegenüber zu vertrauensselig, dachte Kine, doch ihr Schlaf kam ihm sehr gelegen. Aus dem Baum herausgleitend, sprang das Wiesel in den Wegerich neben dem See, sah noch einmal kurz zurück und überquerte die Lichtung.
Er wußte genau, was er zu tun hatte. Es war ihm deutlich klargeworden, als sie sich, genauso wie Kia damals, in dem alten Nest zusammengerollt hatte. Er war wieder an den Tag erinnert worden, an dem es geregnet hatte, während die Jungen zur Welt gekommen waren.
Weitere Kostenlose Bücher