Das Tal der Wiesel
Augen. Sie waren größer als die eines Mutterschafs; der halb geöffnete Mund hatte Ähnlichkeit mit einer düsteren Höhle. Er hätte in eine Tasche der abgetragenen Jacke klettern und sich dort bequem herumdrehen können. Keine der Leichen, die er bisher gesehen hatte, war so gewaltig gewesen. Die endgültige Leblosigkeit und die kraftlose Massigkeit schüchterten ihn ein. Der Körper war genauso seelenlos wie der eines toten Kaninchens. Die Kraft war verschwunden, war vom Tal und von den lebendigen Wäldern zurückgefordert worden.
»Ich verdanke ihm mein Leben«, sagte Wunder. »Ich konnte nicht einfach an ihm vorbeilaufen.«
»Du wußtest, daß er hier liegt?«
»Nach dem Schuß, durch den Gru und Liverskin vertrieben worden waren, hat er sich nicht mehr bewegt.«
»Wilderer ist tot!« Kine stieß es ohne Erleichterung hervor, als ob diese Tatsache irgendwie einen Verlust für ihn bedeutete. Ebenso wie die Schleiereule hatte Wilderer schon immer existiert, ein Gegner, der so sehr ein Teil des Lebens gewesen war, daß es nun ohne ihn trister zu sein schien. »Er gehörte hierher, ein Talbewohner. Er besaß die Gehässigkeit einer Kreuzotter …«
»Er hat mich gefüttert, Kine.«
»Ja … das hier ist kein Platz, an dem man sich länger aufhalten sollte.« Er brach ab und schnupperte. »Wir sind nicht allein«, zischte er mit leiser Stimme. »In den Lebensbaum! Da kommt jemand.«
Wunder drehte sich um. »Es ist der Terrier.«
Aus der Baumhöhlung hinausblickend, beobachteten sie, wie der Hund herankam, um das Dickicht herumschnupperte und den leblosen Körper entdeckte. Einen Augenblick war das Tier verwirrt. Entmutigt scharrte der Terrier in der Erde, wobei er einige Blätter aufwirbelte, fing dann, in Schrecken versetzt an zu winseln und bellte mehrmals.
Das Mädchen hockte lange Zeit neben dem Körper, und als sie sich wieder erhob, sah man, daß ihre Jeans am Knie durch den feuchten Boden dreckig geworden waren. Aber sie war ruhig – ruhiger, dachte der junge Mann, als sie es in dem Häuschen gewesen war – und ihre Augen waren trocken. Nun hatte sie sich, von allen Zweifeln befreit, damit abgefunden. »Gott im Himmel«, stöhnte sie. »Der Arzt hatte den Dummkopf doch gewarnt.«
»Ich hol’ den Arzt.«
»Nein.« Sie beugte sich hinunter und knöpfte Wilderers Jacke richtig zu. Er nahm an, daß sie an die Rauhheit des Todes gewöhnt war – an den Tod, umhüllt von Fell oder Federn, in den Hecken und im Hühnerstall. »Keine Hektik, laß ihn ruhen«, sagte sie bestimmt. »Er hatte sich immer gewünscht, hier zu sterben. Laß das Gewehr bei ihm.«
»Er hat einen Schuß abgegeben.« Ihr Begleiter hatte das Gewehr aufgeklappt und holte die verbliebene Patrone heraus. Die Waffe wirkte ernüchternd. Er spürte sie deutlich in seinen Händen, sie war leicht und gut ausbalanciert, so lebendig, wie die Gestalt auf dem Boden tot war. »Er hat einmal geschossen. Auf die Nerze vielleicht.«
»Und nicht getroffen. Es ist nirgendwo etwas zu sehen. Mit seinem letzten Schuß nicht getroffen.«
»Macht nichts.«
»Aber Wilderer hätte es etwas ausgemacht.« Sie zog den Hund heran und hielt ihn an ihrer Seite, so daß es schien, als ob die drei – das Mädchen, der Terrier und der Leichnam – ungestört sein wollten.
Dem jungen Mann war es egal; er konnte warten. Er betrachtete die Bäume, die dicken Stämme und die zerfurchten Rinden. Zum erstenmal bemerkte er, daß auf den Baumstämmen senkrechte Gärten wuchsen: schwammige Moosbeete neben grauen Flechten, die winzige runde Kissen und kräuselnde Barte bildeten. Alles in dieser Gegend glich Phantasiegebilden, und er befand sich inmitten des Zaubers – genauso wie er in der Schule dem Zauber der Poesie erlegen war.
Man sah, daß Fels sich regt’ und Bäume sprachen,
Auguren haben durch Geheimnis-Deutung
Von Elstern, Krähn und Dohlen ausgefunden
Den tief verborgnen Mörder.
»Du hast ihn nicht gekannt«, ertönte ihre Stimme aus dem Brombeergesträuch. Wange an Wange mit dem Hund sagte sie: »Wir hatten ihn gern. Wir kannten den alten Strolch.« Ihre Augen waren feucht. »Einmal«, sagte sie, verstummte dann und fing einen Moment später mit festerer Stimme erneut an zu sprechen: »Einmal, als ich noch klein war, habe ich einen jungen Vogel gefunden. Er war aus seinem Nest gefallen, das sich in einem Apfelbaum befunden hatte. Eine Misteldrossel. Das Nest hat sich am äußersten Ende eines brüchigen Astes befunden. Wilderer ist auf dem Ast
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