Das Tal der Wiesel
gewesen.«
»Ich will nichts mit Wilderer zu tun haben.« Er betrachtete sie mit ernster Miene. »Ich kenne seine Verschlagenheit. Menschen von Wilderers Schlag haben den Galgen gebaut, haben die Helden mit der Falle und dem Gewehr zu Tode gequält. Ich habe mein ganzes Leben als Gegner Wilderers verbracht. Ich werde ihn nicht besuchen.«
»Einauge ist mit mir mitgekommen.«
»Sei vernünftig!« Seine Stimme klang vorwurfsvoll. »Vergiß den wildernden Mann.«
Sie blickte nachdenklich. Einen Moment lang zögerte sie, zuckte dann mit den Achseln, wandte sich vom Feldweg ab und lief statt dessen in den Wald hinein. Kine folgte ihr und holte sie ein. »Du bist vernünftig, Wunder, wieselvernünftig. Der Mensch ist ein unberechenbares Tier.« Sie sausten geduckt durchs Unterholz dem See entgegen. Das Licht des Waldes, in dem sie voranhüpften, war kristallgrün, sah aus wie Grünspan, und Wunders Fell glänzte. Die Wieselin zeigte kein Zeichen des Kummers. »Natürlich«, meinte sie, leichtfüßig vorwärts springend, »es ist nun vorbei, doch er hat mein Leben gerettet. Ich kann ihn nicht hier liegenlassen, ohne ihn noch einmal zu sehen.«
»Wilderer – hier?«
Es war kaum wahrzunehmen, aber Kine roch verbranntes Schießpulver, und als er plötzlich stehenblieb, blickte er genau in die beiden gähnenden Röhren. Sie ragten aus den Wildkräutern hervor mit einem grauen, metallenen Glanz träger Bedrohlichkeit. Er hatte bisher kein einziges Gewehr aus nächster Nähe gesehen, die Waffen hatten sich immer in den Händen von Menschen befunden, doch er kannte den Geruch, der beim Schießen entstand, und er wußte auch, womit er nun konfrontiert war. Die Mündungen lagen so dicht vor ihm, daß er von seinem Standpunkt aus seine Nase in einen der beiden Läufe hätte pressen können. Sein Zischen war wild.
»Es kann nichts passieren«, beruhigte sie ihn. »Im Augenblick besteht keine Gefahr.«
Kine wich den Läufen aus und ging beunruhigt zu dem Holzschaft.
Er lag dort, wo Gamander hervorwuchs, umrankt von stacheligen Brombeerstengeln. Furchtsam schob Kine das Gewirr zur Seite. Seine Nackenhaare sträubten sich. Wunder war naiv; er verwarf ihre Beteuerungen, seine Nasenlöcher bebten. Etwas Bleiches, Gabelförmiges, das aussah wie der umgekippte Fuß eines riesigen Vogels, ragte steif vor ihm auf. Fünf Krallen befanden sich dort, leicht gekrümmt, als ob sie im Augenblick des Zupackens erstarrt waren, jede von ihnen fast so dick wie sein eigener Hals. Es war eine Hand. Er hätte sich in ihrer Wölbung zusammenrollen können. Die krummen, knochigen Finger schimmerten. Er wich zurück. Es war eine kalte und verschrumpelte menschliche Hand.
Der mächtige, astgleiche Arm erstreckte sich bis zu dem Kopf, der, halb von den Pflanzen verdeckt, auf der Erde lag. Wilderers leicht verdrehter Körper glich einem umgestürzten Baum. »Er bewegt sich nicht mehr«, flüsterte Wunder. »Der wildernde Mann ist tot. Er wird sich nie wieder bewegen.«
Kine tastete sich näher an die massige Gestalt seines alten Rivalen heran. Die Größe und die ungewöhnliche Vertrautheit verblüfften ihn. Er war überwältigt. Kine hatte den Mann nur als ein undeutliches Bild in der Morgendämmerung gekannt, eine vogelscheuchenartige Figur mit Netzen und Frettchen; hatte ihn nur als Schatten hinter einem Fenster gesehen oder, wie er mit schußbereitem Gewehr über die Wiese gegangen war. Er hatte Wilderers Geruch gekannt, seine Silhouette neben Büschen und Hecken. Doch das waren alles abstrakte Wahrnehmungen gewesen. Die kompakte Masse, der er nun gegenüberstand, war etwas anderes. Jede Umrißlinie, jedes Gelenk und jede Ader kamen ihm wie ein Monument vor.
Ein Wanderer, der sich im Wald verirrt hatte, wäre in diesem Moment vielleicht ruhig stehengeblieben und hätte eine sonderbare Szene beobachten können. Der Körper lag nicht weit vom Kaninchenbau entfernt, der von Wilderer so oft heimgesucht worden war, eine durchnäßte, schmutzige Gestalt, um die die beiden kleinen Raubtiere fast ehrfürchtig herumliefen wie Zwerge bei der Totenwache eines Riesen.
In Kines Empfindungen mischten sich Respekt und Widerwillen. Wilderer war ein würdiger, äußerst verschlagener Rivale gewesen. Der tote Koloß rührte ihn unerwarteterweise. Es war, als ob die Größe die Sterblichkeit irgendwie verdeutlichte. Die trockene, pergamentartige Haut über dem einen Backenknochen war von Dornen zerkratzt und mit dunklem Blut bedeckt. Kine betrachtete die blinden
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