Das Tal der Wiesel
ließen.
»Wieselland«, sagte Kine. »Seit der Entstehung unserer Art. Wir haben schon immer hier gejagt.«
»Du mußt mich in die Geheimnisse einweihen – in die Geheimnisse der Maulwürfe und der Kaninchenbaue.«
»Die Geheimnisse sind endlos und überall.« Das Tal war durchtränkt von ihnen. Es gab hundert Spuren und tausend Rätsel. Kine konnte ihr die Eigenarten des Dachses erklären und die sehnsüchtige Botschaft in dem Geheul der Füchsin. Er konnte ihr von den umherschwärmenden Eintagsfliegen erzählen, von den Alarmrufen der Rebhühner, von dem Gift der Kreuzotter und von dem dumpfen Meckern der Sumpfschnepfe im Sommer, das sie mit ihren Schwanzfedern erzeugte und ihr den Namen ›Himmelsziege‹ eingebracht hatte. Er konnte von mondlosen Nächten berichten, in denen die Eule auf die Jagd ging, und von den seltsamen Banshees, den Todesfeen, die in tiefdunklen Lauben wimmerten.
Er konnte vom nächtlichen Umherstreifen der Igel erzählen, von dem Eichelhäher, der zahlreiche Eichenwälder pflanzte, und von beinlosen Eidechsen, die ihren Schwanz abwarfen, wenn man sie packen wollte. Kine konnte ihr von dem Zahnclan und dem Krallenclan erzählen. Er kannte die Routen von pelzigen Winzlingen und die Aufenthaltsorte von gefiederten Riesen in der Marsch. Wunder konnte durch ihn all die verschiedenen Stimmungen des Tales erfahren. Er dachte an heiße Tage, leuchtende Schmetterlinge, an die schlammbedeckten Beine der Ochsen, nachdem sie sich gesuhlt hatten, und an die Tage, an denen der Frost den Weißdorn umschloß und die Ebene gefror. All das hätte er ihr erzählen können. Kine hätte ihr die Geheimnisse dieser Landschaft erklären können – doch wozu? »Du kannst hier nicht leben«, erklärte er ihr. »Wir haben den Kampf verloren.«
»Wenn du hier weiterhin leben kannst, dann kann ich es auch.«
»Was ich tun werde, weiß ich noch nicht.« Seit seiner Rückkehr hatte er nur an Wunder gedacht. »Aber ich weiß, daß du nicht hierbleiben kannst. Kias Geschlecht muß überleben. Unter dieser Schreckensherrschaft gibt es keinen Platz für meine Tochter.« Er sah sie nicht an. Es fiel ihm zu schwer. Er blickte auf das Weideland und auf die prächtigen, überhängenden Dächer der großen Eichen. Das Schicksal war grausam: Er hatte sie wiedergefunden und gleichzeitig ihr Erbe, das Tal, verloren. Die Ironie war bitter, doch er würde es nicht zulassen, daß sich Kias Tochter der Herrschaft Grus beugte. Er sagte so beiläufig wie möglich: »Young Heath wird bald in sein Land zurückgehen. Er ist in deinem Alter, und er bewundert dich. Du könntest mit ihm mitgehen.«
Wunder lachte. »Warum sollte ich denn? Ich habe nach dir gesucht. Was soll ich denn mit einem jüngeren Männchen?«
»Du wirst es herausfinden.« Wenn die Wildgänse zurückkehrten. »Übrigens«, meinte er zu ihr. »Es ist nicht weit von hier entfernt.«
»Tchk«, sagte Wunder. Sie ging einen Schritt zur Seite und rief gereizt: »Ich hätte angenommen, daß du der letzte sein würdest, der mir so etwas vorschlägt. Nach der Freude unseres Wiedersehens! Ich hätte angenommen, du würdest darauf bestehen, daß ich bei dir bleibe.«
»Ich werde vielleicht mitkommen.« Er glaubte kaum daran, doch er mußte alle Möglichkeiten überdenken. So wie die Dinge nun standen, war es am vernünftigsten weiterzuziehen. Kine hatte es vorher verächtlich verworfen, doch die Situation hatte sich nun verändert. Das Wieselvolk war vernichtet worden. Wenn die wenigen Überlebenden das Land verließen, würde sich Gru am Mondsee niederlassen. Dann würde es in dem Tal keinen einzigen sicheren Platz mehr geben. Er mußte ein Zuhause für Wunder suchen. »Ich werde vielleicht mitkommen«, beteuerte er. »Auf jeden Fall werde ich mich in der Nähe aufhalten. Ich muß wissen, daß du dich in Sicherheit befindest. Deine Zukunft ist das Wichtigste überhaupt.«
»Mach dir nichts vor.« Sie betrachtete ihn liebevoll. »Du weißt genau, daß du nicht woanders hingehen wirst. Als ob du das tun würdest! Du bist hier zur Welt gekommen – genauso wie ich. Ich werde hier mein Glück versuchen, so wie Kia es auch getan hat.«
Er wußte genau, daß es keinen Sinn hatte, Einwände zu machen: Sie glich ihrer Mutter zu sehr. »Wir werden sehen«, sagte er.
Wunder schnurrte selbstsicher. »Ja, wir werden sehen. Nun will ich zu Wilderer laufen. Willst du mitkommen?«
Er blieb abrupt stehen.
»Ich hab’s dir doch erzählt«, fügte sie hinzu. »Er ist gut zu mir
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