Das Tal der Wiesel
krankhaftes Interesse an vergossenem Blut, und die Neuigkeit verbreitete sich rasend schnell. Sogar die Saatkrähe konnte nicht umhin, einen beunruhigten Blick zu werfen. »Es sieht aus, als ob er tot ist«, sagte der Wächter.
»Er ist tot«, behauptete Scrat.
»Tot oder bewußtlos.«
»Tot«, beharrte die Spitzmaus.
»Er ist nicht tot«, knurrte Kia wütend und pflegte die übel zugerichtete Gestalt weiter, leckte die Wunden, die von den scharfen Krallen der Eule herrührten. Ihre Zunge war sanft, ihr Temperament jedoch wild, und Scrat hielt sich zurück. »Beobachte den Weg!« forderte Kia ihn auf. »Ich kann nicht alles machen. Und du …«, sie schaute zur Krähe hinauf, »beobachte die andere Seite!«
»Ich hatte rechtzeitig gewarnt …«
»Halte Ausschau!«
»Wenn er auf mich gehört hätte«, sagte der Wächter verstimmt.
»Gehört hätte!« wiederholte Scrat.
»Dann würde er jetzt nicht verletzt sein«, sagte der Wächter.
»Er hat niemals auf jemanden gehört«, sagte Scrat. »Das kann dir jeder bestätigen.«
Kia unterbrach sie abrupt. »Ich muß ihn zum Lebensbaum bringen. Ich will wissen, ob der Weg frei ist. Flieg voran, Wächter, und sieh für mich nach.« Die Saatkrähe zögerte. Es gehörte nicht zu seinen Aufgaben, doch ihre Treue beeindruckte ihn, und, etwas unbeholfen, gehorchte er. Die Wieselin eilte entschlossen los, setzte ihre Last ab und zu, wo sie eine Deckung fand, ab, spähte vorsichtig umher und arbeitete sich dann wieder weiter vorwärts. Der Vogel flog über ihr, bis sie den Lebensbaum erreicht hatten. Als sie wieder aus der Weide herausgekommen war, fragte er fast besorgt: »Geht’s ihm gut?«
Kia nickte. »Er kommt durch. Etwas Ruhe – und er wird wieder ganz der alte sorglose und dickköpfige Kine sein.«
Gewalt war im großen und ganzen sehr auffällig. Sie erregte Aufmerksamkeit, und man konnte leicht den Eindruck bekommen, daß sie die Stimmung im Wald und in der Marsch beherrschte. Dies war jedoch nicht der Fall. Mit friedlichen Aktivitäten voll und ganz beschäftigt, waren die Talbewohner weniger darauf aus, anderen Tieren nachzustellen, als zu vermuten war; selbst zwischen Jägern und ihren Beutetieren bestand in der Regel eher Eintracht als Disharmonie. Fast jeden Morgen konnte man die Füchsin zwischen fressenden Kaninchen umherstreifen sehen, wobei Gleichgültigkeit auf beiden Seiten zu beobachten war: oder man konnte das Hermelin entdecken, wie es sich ausruhte, während wohlbeleibte Wühlmäuse direkt vor seiner Nase vorbeiliefen. Wie die Tiere in exotischen Gegenden, die keine Angst vor einem gesättigten Löwen haben, konnten die vorsichtigen Geschöpfe, die in Kines Land lebten, genau die Absichten ihrer Nachbarn einschätzen.
Wenn sich Wilderer mit seinem Gewehr näherte, schlugen die Krähen Alarm; hatte er es nicht dabei, schauten sie selten ein zweites Mal zu ihm hin. Der Stock, den er nun bei sich trug, beunruhigte sie nicht; schon aus einer Entfernung von hundert Metern konnten sie zwischen einem Stock und einem Gewehr unterscheiden. Auch seine Gebrechlichkeit nahmen sie wahr, seinen schleppenden Gang, der die Vögel und die anderen Tiere vollends von seiner Harmlosigkeit überzeugte, als er, auf den Stock gestützt, den Pfad zum See entlangging.
Für einen Menschen war dies die beste Zeit des Jahres, um in den Tiefen des Waldes umherzustreifen. Der Lehmboden trocknete, und das Wachstum mußte die Löcher und Gruben erst noch überdecken. Doch schon bald würden die Brombeersträucher allen Ankömmlingen einen Hinterhalt legen, während Nesseln und Disteln bedrohlich in die Höhe wuchsen. Dann würde die versteckt lauernde Große Klette ihre kugeligen, haftenbleibenden Fruchtstände an die Kleidung heften und die Stechmücken Gift ins menschliche Blut spritzen. Bis dahin war der Pfad frei, die bevorstehende Üppigkeit deutete sich erst zart an. Die Wohlgerüche der Pflanzensäfte und der ersten Düfte der Schlüsselblumen vermischten sich mit denen der fruchtbaren Erde. Die Eichen hatten eine rotbraune Tönung erhalten, Dickichte waren mit grünem Flaum bedeckt. An den Knospenspitzen der Haselnußsträucher zeigten sich rote Sterne.
Die vornübergebeugte Gestalt übersah diese feinen Andeutungen nicht. Wilderer hatte das ursprüngliche Leben in genau diesem Tal kennengelernt, war als Kind an Kaninchen, die sich in den warmen Hecken aufhielten, herangeschlichen, einen Knüppel in seiner kleinen Faust haltend, und hatte sein erstes
Weitere Kostenlose Bücher