Das Tal der Wiesel
er zurück zur bewaldeten Anhöhe. Am Vorabend war er noch einmal allein zum Mondsee gelaufen. Es war eine letzte Andacht vor dem Überfall gewesen, eine nachdenkliche Wallfahrt. Der Platz hatte einsam und vernachlässigt gewirkt. Wasserlinsen, hell, als ob sie geblichen worden wären, bedeckten den See, während Brombeersträucher das buchtenreiche Ufer unsicher machten. Die Höhlung in der Silberweide stand offen. Der Lebensbaum war vom Unglück verfolgt. Nur Insekten suchten seine todeskranke Öffnung auf.
Kine war ein kalter Schauer über den Rücken gelaufen. Langsam hatte er sich dem kleinen Steilufer genähert und hinuntergesehen. Sein Blick war auf unbewegliche Wasserpflanzen und auf dünne, gelbliche Schaumgebilde gestoßen. Dann, mit Wehmut, hatte er die Rosen gesehen – wilde, weiße Seerosen mit karmesinroten Herzen. Ein merkwürdiges Gefühl, als ob er nicht allein war, hatte er plötzlich wahrgenommen. »Kine«, eine Stimme hatte die Stille durchbrochen. »Kann ich mit dir reden?« Ein Wiesel war herangekommen. »Ich muß dir etwas sagen«, meinte das junge Heidewiesel. »Ich will bei dem Überfall dabeisein. Ich muß mit dir mitkommen.«
Kine hatte die Seerosen betrachtet.
»Bitte, Kine. Das ist eine Chance, die nie wiederkommt. Laß mich mit! Es wird ein einzigartiges Unternehmen in der Wieselgeschichte sein. Laß mich dabeisein – damit ich, wenn ich überlebe, davon erzählen kann. Ich fürchte mich nicht vor den Gefahren. Und ich glaube, ich fürchte mich auch nicht vor dem Tod.«
Er hatte wirklich sehr jung ausgesehen, ein kleines Wiesel mit einem gelbbraunen Fell und einem frischen, ungezeichneten Gesicht – nur wenig älter als die Jungen von Kia, wenn sie noch gelebt hätten. Dieser Gedanke hatte Kine verstimmt. »Ich kann kämpfen; ich werde meinen Teil dazu beitragen. Ich bin bereit, Kine. Wir leben in einer unruhigen Zeit. In einer bedeutsamen Zeit.«
»Tatsächlich?«
»Ich meine, sie werden auf unseren Kampf zurückblicken, auf unsere Verteidigung des Tals gegen die fremden Eindringlinge. Du führst ein einmaliges Unternehmen, Kine. Wenn ich nicht mitkommen könnte, würde ich vor Scham sterben. Ich denke nur noch an den Überfall. Laß mich mitgehen.«
Kine hatte gedankenverloren auf die Seerosen gestarrt. Wie lange er auf dem kleinen Steilufer gestanden hatte, konnte er nicht sagen, aber als er sich zum Gehen gewandt hatte, war das junge Wiesel noch immer dagewesen. Es hätte sein eigener Sohn sein können. Und wenn es so gewesen wäre? Wie hätte er dann reagiert? Mürrisch war er losgelaufen, hatte sich noch einmal kurz umgedreht. »Wir brechen früh auf«, hatte er geknurrt. »Sei pünktlich!«
Nun erstreckte sich der Fluß vor ihm. die V-förmigen Kielwasser bewegten sich mühsam auf das andere Ufer zu. Von oben, wo der Wächter herumkreiste, sah es aus, als ob ein sich schlängelndes Band durch das Wasser gezogen wurde, und die Saatkrähe schlug zur Begrüßung der schwimmenden Tiere, ohne es eigentlich zu wollen, einen Purzelbaum in der Luft. Nach der Meinung des Vogels würde ihr Vorhaben kein gutes Ende nehmen, doch er bewunderte trotzdem ihren Mut. Er flog dicht über die Wiesel hinweg, erhob sich mit seinen ausgefransten, schwarzen Flügeln wieder in die Höhe und schlug einen zweiten Purzelbaum.
Kine wartete. Ein Wiesel stand noch am Ufer. Es war das junge Heidewiesel. »Kine, in der Heide gibt es kein Wasser. Ich kann nicht schwimmen. Ich habe es niemals gelernt.«
Rote Köpfe bewegten sich in den Fluten auf und ab. Einige hatten das ferne Ufer schon fast erreicht. Kine hoffte inständig, daß sich in diesem Gebiet keine Nerze befanden. Gereizt rief er: »Du kannst nicht schwimmen? Du wolltest unbedingt mitkommen und kannst nicht schwimmen?«
»Ich bin noch nie an einem Fluß gewesen.« Seine Augen traten hervor. »Das war mir nicht klar.«
Kine knurrte wütend. »Was war dir nicht klar? Daß das Wasser naß sein würde wie deine Ohren? Daß der Fluß breit und tief ist; daß in seinen Fluten der Tod lauert? Das war dir nicht klar?« Kine sah ihn grimmig an. »Gut, ich werde dir etwas sagen, Wiesel, und hör genau zu. Wir können alle schwimmen. Wir laufen einfach in den Fluß, und dort laufen wir weiter. Das ist nicht schwer. Lauf hinein. Lauf weiter. Alles klar? Hast du es verstanden? Dann, bei Donner und Blitz, versuch es!«
Als der andere gehorchte, schnappte Kine nach ihm. »Lauf, Donnerwetter noch mal! Trete ins Wasser.« Seine Stimme wurde freundlicher.
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