Das Tal der Wiesel
einen angenehmen Duft verströmt hatte, doch nun warf sie schon ihre Blätter auf den Weg zum Häuschen. Nun schimmerte das Hochwasser. In weiter Ferne kreisten unzählige große Schwärme abwandernder Wildvögel am Himmel. Der Morgen war ideal, um mit Frettchen jagen zu gehen. Er betrachtete das schiefe Gartentor durch eine verschmierte Scheibe hindurch. Eingesperrtsein war kein Leben, weder für einen Menschen noch für ein Tier.
Er erblickte etwas, was er für eine Katze hielt, und sah genauer hin. Es war keine Katze, sondern ein Nerz – ein riesiger Nerz. Ein weiterer folgte, braun, fast ebenso monströs, und der Grund seines Erwachens fiel Wilderer wieder ein: das Spektakel von verängstigten Hühnern. In diesem Moment wurde ihm klar, was die Nerze getan hatten. Eine fürchterliche Wut stieg in ihm auf, ein Wieselrausch. Dadurch gewann die verbrauchte Gestalt ungeahnte Kräfte. Trotz seiner Qualen erreichte der Mann irgendwie die Türschwelle. Ihm war schwindelig, sein Körper marterte ihn. Er schleppte seine Beine voran. Allein seine Wut gab ihm Kraft – und das Gewehr, das er hielt.
Er entdeckte keine Spur mehr von den Räubern. Sie sind zum Wald gelaufen, dachte er, der See ihr erster Halt. Dann durch den Bachdurchlaß und den Graben zu ihrem Schlupfwinkel in der Marsch. Wild blickte er sich um. Sie hatten sich vollgefressen und würden sich träge fortbewegen. Wenn er sich auf seinen Beinen halten konnte, war es noch möglich, sie einzuholen. Seine Lippen zuckten. »Ich werde euch kriegen.« Wilderers Augen suchten den Weg ab. »Und wenn es das letzte ist, was ich tun werde«, gelobte er, unsicher vorwärtswankend. »Ich werde euch beide kriegen.«
Die gebeugte, tiergleiche Gestalt befremdete die Schleiereule. Das Tageslicht enthüllte einen grauen Himmel mit silbrigen Rissen. Die Eule beobachtete aufmerksam. Die schlurfende Vogelscheuche bot einen seltsamen Anblick: Wilderer hatte sich nur eine Jacke übergeworfen und war in die Stiefel gestiegen; ansonsten trug er seinen Schlafanzug und einen Patronengurt. Er torkelte, taumelte wie ein krankes Schaf. Im Zickzack laufend, kollidierte er beinahe mit dem Holzstoß, schwenkte stürmisch auf den Galgen zu, hielt sich einen Augenblick lang an dem Pfahl fest und setzte seinen Weg wieder fort.
Ein Meisenschwarm schwirrte munter am Waldrand entlang; die Vögel unterbrachen ihre kurzen Flüge immer wieder, schienen seine Gangart nachzuäffen. Als sie verschwunden waren, breitete sich Ruhe aus; selbst die Distelwolle bewegte sich nicht mehr. Schweigen legte sich über den Ort, einer dieser stillen Momente der Dämmerung, die nun mit jedem Morgen länger werden würden, da sich der Herbst näherte. Die Kraft des Sommers erschöpfte sich. An einigen Stellen blühte noch das Mädesüß, aber blaß, und es duftete nur noch schwach. Der scharfe Geruch der schwelenden Feuer auf den Feldern war überall wahrzunehmen.
Die Ruhe der Natur war in Wilderers Kopf nicht wiederzufinden. Er atmete den Rauch ein, war wütend, hatte Schmerzen und erinnerte sich an einen anderen Wald, an einen anderen Feind. Er preßte den Gewehrschaft eng an seinen Körper. Spinnweben schimmerten. Die Feuchtigkeit der Nacht tropfte glitzernd von den Ästen. Er konnte noch immer die Geschosse hören, das Heulen der Granaten. Doch in diesem Wald herrschte eine Grabesstille; es waren Dornsträucher – und kein Stacheldraht –, die seine Kleidung zerrissen. Er konnte keine Nerze entdecken, und als seine Sicht immer verschwommener wurde, umklammerte er einen Baumstamm, um nicht zu Boden zu gehen.
»Ich bin fertig«, dachte er. Dann bäumte er sich gegen den Gedanken auf, tastete sich vorwärts. Dornen und Stacheln zerrten an ihm. Entwurzelte Baumstämme, deren Rinde von Kaninchen abgenagt worden war, versperrten ihm verschwörerisch den Weg; Kletten klammerten sich an ihn. »Hühnerräuber!« In dem Schlamm einer austrocknenden Pfütze sah er ihre Spuren und wurde von neuer Wut erfüllt. »Hühnermörder!«
Dem Zaunkönig kam es so vor, als ob Wilderer sich fast blind durch das dichte Unterholz bewegte. Undurchdringliche Dickichte richteten sich vor ihm auf und schwarze Bäume, zu denen die Tiere humpeln würden, wenn der Winter ihnen übel mitspielte. Die Schwärze verschlang ihn, und als seine Sinne sich wieder regten, bemerkte der Mann, daß er bewußtlos gewesen war, doch nur kurz, denn die Feuchtigkeit auf dem Boden hatte sich noch nicht auf ihn übertragen. Eine Hand schmerzte. Als
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