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Das Tal der Wiesel

Das Tal der Wiesel

Titel: Das Tal der Wiesel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.R. Lloyd
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der Stange hockten. Ein ungewohnter Luftzug war zu spüren, der von draußen etwas mitbrachte, was unheimlich hereinglitt. Die gefleckte Henne fing an zu gackern. Sie kannte jeden Zentimeter des Hühnerstalls: die abgeteilten Brutfächer hinter der Stange; die beschmutzten, niedrigen Bretterwände; die roten Milben an den Stellen, wo das Holz Kreosot brauchte. Aber sie konnte nicht das Etwas auf dem Boden wahrnehmen, die eingedrungene Gestalt – und auch nicht den anderen Schatten, der ebenfalls durch das unschöne Loch hereinschlüpfte.
    Der Hühnerstall war von einer drückenden Nervosität erfüllt. Die aufgeregt gluckenden Vögel regten sich ängstlich, reckten ihre Hälse, flatterten mit den Flügeln. Für eine Weile verharrten die Fremden bewegungslos. Unsichtbar, doch deutlich spürbar, verbreiteten sie eine entsetzliche Atmosphäre, die das Geflügel in Schrecken versetzte. Der Stall bot keinen Schutz mehr. Er war kein Zufluchtsort mehr, sondern eine Falle; und die gefleckte Henne wußte, daß sie und ihre Artgenossen darin kaum eine Chance hatten.
    Sie würden von Panik erfaßt werden. Der sicherste Platz war auf der Stange, doch die gefleckte Henne wußte genau, daß sie alle von Panik erfaßt werden und blindlings in die beengenden Winkel des Verschlags flattern würden. Der Drang aufzufliegen regte sich in ihrer eigenen Brust. Ein Huhn würde sich in die Luft erheben, dann würden die anderen folgen.
    Es war genau vorauszusehen. Ein Durcheinander auf den niedrigen Bretterwänden, und sie konnte sich die Hysterie ausmalen, die verkrampften Flügel, während das unsichtbare Böse stumm beobachtete und herumschlich. Die Vögel würden sich selbst in den Untergang stürzen. Ihr aufgeregtes Gackern klang bereits sehr erregt. Sie schaukelten nervös hin und her, schüttelten ihr Gefieder. Die Schwanzfedern zitterten. Schließlich flog ein Rhodeland-Huhn, ein Wirbelwind in der Düsternis, mit einem Aufschrei in die Luft. Es krachte, mit dem Kopf zuerst, gegen die Latten, ein zweites folgte sogleich. In dem nun entstehenden Chaos warteten die Eindringlinge geduldig, während Flügel gegen Holz schlugen und Federn herunterschwebten, die Hühner voller Entsetzen von Wand zu Wand flatterten. Nur wenn die Vögel keuchend auf den Boden glitten, bewegten sich die Nerze.
    Es war ein Blutbad. Ein Hals nach dem anderen wurde zerbissen, Federn und geronnenes Blut bildeten Flechtwerke auf den Latten. Die gefleckte Henne versuchte sich vergeblich an einem Brutfach festzukrallen und rutschte flatternd, von einer lähmenden Furcht gepackt, langsam dem Boden entgegen. Überall lagen tote Hühner. Sie landete auf einem erschlafften Leghorn, dessen durchgebissene Kehle warm und feucht war. Kreischend stürzte die Henne auf die entfernte Ecke zu, bemerkte die drohenden Kiefern und flatterte dorthin, wo ein weiteres Opfer zappelte. Atemlos vor Angst stieß sie gegen die Bretterwand. Ihr Hals zitterte. Es war der letzte, der in diesem Leichenhaus besudelt wurde.
    Der Himmel erhellte sich, als die Nerze herauskamen. Gru betrachtete den östlichen Schimmer und leckte über ihre blutigen Lippen. »Sollen die Bewohner des Tales die Leichen zählen. Sollen sie sich über das Zeichen der neuen Beherrscher Gedanken machen.«
    »Das Zeichen der Gru.« Ihr Gatte blickte auf den Stall zurück. »Bevor wir zum Bunker zurücklaufen, wartet noch eine andere Aufgabe auf uns.«
    »Die Tochter der Wieselin?«
    »Die kleine Ausreißerin. Sie hält sich am See auf, zusammen mit dem einäugigen Alten. Unverschämt und anmaßend ist sie. Genauso wie ihre Mutter« – der kalte Blick schwenkte zum Eichenwald –, »eine leichte Aufgabe.«
    Sie befanden sich noch im Obstgarten, als Wilderer sich rührte. Er dachte, daß ihn irgend etwas aufgeweckt hätte, doch es war nichts zu hören. Es war still, und der Gesang der Vögel, der sich nun zögernd entfaltete, beinhaltete einen schwermütigen Beiklang, das Wissen um den bevorstehenden Herbst. Er drehte sich mühsam auf die andere Seite. Die Dämmerung zeigte sich am Fenster. Im Garten würde Fallobst liegen, und im Tau am Waldrand könnte man Eßkastanien finden. Es war ein Tagesanbruch, den man draußen verbringen sollte, nicht im Bett, schnaufend wie ein sterbender Hund.
    Die Zeit entzog sich ihm. Es schien erst gestern gewesen zu sein, als der Flieder geblüht hatte und Bienen um die weißen Blüten herumgeschwirrt waren. Es schien erst gestern gewesen zu sein, als die Linde von ihren hohen Ästen

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