Das Tao der Physik
so breit und geräumig wie der Himmel selbst. Der Boden ist mit (zahllosen) Edelsteinen jeder Art gepflastert, und im
Turm gibt es (zahllose) Paläste, Veranden, Fenster, Treppen, Geländer und Passagen, alle aus den sieben Arten von Edelsteinen
hergestellt . . .
Und innerhalb dieses Turmes, geräumig und erlesen geschmückt,
gibt es wieder Hunderttausende von Türmen, von denen jeder so
zierlich ausgeschmückt ist wie der Hauptturm selbst und so geräumig wie der Himmel. Und all diese Türme von unnennbarer Zahl
stehen einander in keiner Weise im Wege; jeder bewahrt seine individuelle Existenz in vollkommener Harmonie mit allen übrigen;
nichts hindert einen Turm, in alle anderen einzugehen, individuell
oder kollektiv; es ist ein Zustand eines vollkommenen Vermischens
und dennoch einer vollkommenen Ordnung. Sudhana, der junge
Pilger, sieht sich selbst in all diesen Türmen wie auch in jedem einzelnen Turm, wo alles im einzelnen enthalten ist und jedes einzelne
alles enthält. 15
Der Turm in dieser Passage ist natürlich eine Metapher für das
Universum selbst, und das perfekte Ineinanderverschmelzen
seiner Teile ist im Mahayana-Buddhismus als »gegenseitige
Durchdringung« bekannt. Das Avatamsaka stellt klar, daß
diese Durchdringung eine dynamische Wechselbeziehung ist,
die nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich stattfindet.
Die Erfahrung von der gegenseitigen Durchdringung im Zustand der Erleuchtung kann als mystische Vision der vollständigen Bootstrap-Situation gesehen werden, wo alle Phänomene im Universum harmonisch zusammenwirken. In solch
einem Bewußtseinszustand wird das Reich des Intellekts überschritten, und kausale Erklärungen erübrigen sich; sie werden
durch die direkte Erfahrung der gegenseitigen Abhängigkeit
aller Dinge und Vorgänge ersetzt. Der buddhistische Begriff
der gegenseitigen Durchdringung geht somit weit über jede
wissenschaftliche Bootstrap-Theorie hinaus. Nichtsdestoweniger gibt es in der modernen Physik Modelle von subatomaren
Teilchen, die auf der Bootstrap-Hypothese basieren und die
verblüffendsten Parallelen zu den Ansichten des MahayanaBuddhismus aufweisen.
Wird die Bootstrap-Idee in einem wissenschaftlichen Rahmen formuliert, so muß sie begrenzt und angenähert bleiben,
vor allem durch die Vernachlässigung aller Wechselwirkungen
außer den starken. Da diese etwa hundertmal stärker sind als
die elektromagnetischen Kräfte und um viele Größenordnungen stärker als schwache und Gravitations-Wechselwirkungen,
scheint hier eine solche Annäherung vernünftig. Der wissenschaftliche Bootstrap hat es dann ausschließlich mit stark wechselwirkenden Teilchen oder Hadronen zu tun und wird daher
oft »Hadronen-Bootstrap« genannt. Er ist innerhalb der S-Matrix-Theorie formuliert, und sein Ziel ist, alle Eigenschaften der
Hadronen und ihrer Wechselwirkungen eindeutig aus den Forderungen der Selbstkonsistenz abzuleiten. Die einzig zulässigen »Grundgesetze« sind die im vorigen Kapitel besprochenen
allgemeinen S-Matrix-Prinzipien, die von unseren Beobachtungs- und Meßmethoden gefordert werden und somit den
nicht in Frage stehenden, für alle Wissenschaft notwendigen
Rahmen bilden. Andere Eigenschaften der S-Matrix werden
vorläufig als
»Grundprinzipien« postuliert werden müssen,
aber man erwartet, daß sie sich in der vollständigen Theorie als
notwendige Folge der Selbstkonsistenz ergeben. Die These,
daß alle Hadronen Reihen bilden, wie der Regge-Formalismus
(s. S. 273) sie beschreibt, könnte von dieser Art sein.
In der Sprache der S-Matrix-Theorie postuliert also die
Bootstrap-Hypothese, daß die volle S-Matrix und damit alle
Eigenschaften der Hadronen eindeutig von den allgemeinen
Prinzipien bestimmt werden können, weil es nur eine mögliche
S-Matrix gibt, die mit allen drei Prinzipien übereinstimmt.
Diese Vermutung wird durch die Tatsache gestützt, daß es den
Physikern nie auch nur annähernd gelang, ein mathematisches
Modell zu konstruieren, das den drei allgemeinen Prinzipien
genügt. Wenn die einzige folgerichtige S-Matrix alle Eigenschaften und Wechselwirkungen der Hadronen beschreibt, wie
die Bootstrap-Hypothese annimmt, wird ersichtlich, warum die
Physiker in ihrem Versuch, eine folgerichtige teilweise
S-Matrix zu konstruieren, gescheitert sind.
Die Wechselwirkungen der subatomaren Teilchen sind so komplex, daß keineswegs sicher ist, ob die komplette folgerichtige SMatrix jemals konstruiert wird, aber eine Reihe teilweise erfolgreicher Modelle
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