Das Tao der Physik
sich eine sehr unterschiedliche
Einstellung entwickelt. Die Physiker erkannten, daß alle ihre
Theorien über Naturerscheinungen, einschließlich der durch
sie beschriebenen »Gesetze«, Schöpfungen des menschlichen
Verstandes sind; Eigenschaften unserer begrifflichen Landkarte der Wirklichkeit, nicht die Wirklichkeit selbst. Dieses begriffliche Schema ist notwendigerweise begrenzt und nur annähernd richtig, und dies gilt auch für alle wissenschaftlichen
Theorien und sogenannten »Naturgesetze«, die es enthält. Alle
Naturerscheinungen hängen letztlich miteinander zusammen,
und um eine zu erklären, müssen wir alle anderen verstehen,
was offensichtlich unmöglich ist. Der Erfolg der Wissenschaft
besteht darin, daß Annäherungen möglich sind. Wenn jemand
mit einem ungefähren Verstehen der Natur zufrieden ist, kann
er einzelne Gruppen von Phänomenen auf diese Weise beschreiben und andere Phänomene, die von geringerer Bedeutung sind, vernachlässigen. So kann man viele Phänomene mit
Hilfe einiger weniger erklären und daher verschiedene Aspekte
der Natur annäherungsweise begreifen, ohne alles gleichzeitig
verstehen zu müssen. Dies ist die wissenschaftliche Methode;
alle wissenschaftlichen Theorien und Modelle sind nur Annäherungen an die wahre Natur der Dinge, aber der durch die
Approximation eingebrachte Fehler ist oft so klein, daß diese
Methode stichhält. In der Teilchenphysik wird z. Β. die Gravi
tationsWechselwirkung zwischen Teilchen gewöhnlich ignoriert, da sie um viele Größenordnungen geringer ist als die der
anderen Wechselwirkungen. Obwohl der durch diese Vernachlässigung verursachte Fehler außerordentlich klein ist, steht
fest, daß die Gravitations-Wechselwirkung in zukünftigen genaueren Theorien der Teilchen einbezogen werden muß.
So konstruieren die Physiker eine Reihe von Teiltheorien
und annäherungsweisen Theorien, von denen jede genauer ist
als die vorhergehende, aber keine von ihnen trägt den Naturerscheinungen vollständig und endgültig Rechnung. Wie diese
Theorien sind alle von ihnen beschriebenen »Naturgesetze«
veränderlich und müssen, wenn die Theorien verbessert werden, genaueren Gesetzen weichen. Den unvollständigen Charakter einer Theorie erkennt man gewöhnlich an ihren willkürlichen Parametern oder »fundamentalen« Konstanten, d. h. an
Größen, deren Zahlenwerte von der Theorie nicht erklärt, sondern die empirisch ermittelt werden und dann einzusetzen sind.
Die Quantentheorie kann den Wert für die Masse des Elektrons nicht erklären, die Feldtheorie nicht die Größe der Ladung des Elektrons und die Relativitätstheorie nicht die Größe
der Lichtgeschwindigkeit. In der klassischen Physik wurden
diese Größen als fundamentale Naturkonstanten betrachtet,
die keiner weiteren Erklärung bedurften. Nach moderner Ansicht ist ihre Rolle als »fundamentale Konstanten« vorübergehend und reflektiert die Begrenzungen der gegenwärtigen
Theorien. Nach der Bootstrap-Philosophie sollten sie in künftigen Theorien der Reihe nach erklärt werden, wenn die Genauigkeit und der Anwendungsbereich dieser Theorien sich vergrößern. So kann man sich der idealen Situation nähern, sie jedoch vielleicht nie erreichen, wo die Theorie keine unerklärten
»fundamentalen« Konstanten enthält und wo alle ihre »Gesetze« aus der Forderung der Gesamtübereinstimmung folgen.
Wir müssen uns jedoch klarmachen, daß selbst eine solche
ideale Theorie einige unerklärte Züge aufweisen muß, wenn
auch nicht notwendigerweise in Form von numerischen Konstanten. Solange sie eine wissenschaftliche Theorie ist, müssen
gewisse Begriffe ohne Erklärung akzeptiert werden, die die
wissenschaftliche Sprache bilden. Wenn man die BootstrapIdee noch weiterführen wollte, würde man über die Wissenschaft hinausgelangen:
In einem weiteren Sinn ist die Bootstrap-These, so faszinierend und
nützlich sie ist, unwissenschaftlich . . . Die Wissenschaft, wie wir sie
kennen, bedarf eines sprachlichen Rahmens, der nicht in Frage
gestellt wird. Semantisch kann daher ein Versuch, alle Begriffe zu
erklären, kaum »wissenschaftlich« genannt werden. 3
Es ist offensichtlich, daß die vollständige Bootstrap-Anschauung von der Natur, in der alle Phänomene im Universum einzig
und allein durch die folgerichtige Übereinstimmung bestimmt
werden, der östlichen Weltanschauung sehr nahe kommt. Ein
unteilbares Universum, in dem alle Dinge und Vorgänge zusammenhängen, wäre kaum sinnvoll, wenn es nicht
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