Das Tao der Physik
Staubkörnchen sind Buddhas ohne
Zahl vorhanden. 19
Die Ähnlichkeit dieses Bildes mit dem Hadronen-Bootstrap ist
verblüffend. Die Metapher von Indras Netz könnte man das erste Bootstrap-Modell nennen, etwa 2500 Jahre vor Beginn der
Teilchenphysik von östlichen Weisen erschaffen. Die Buddhisten halten daran fest, daß der Begriff der
gegenseitigen
Durchdringung nicht intellektuell, aber von einem erleuchteten
Geist im Zustand der Meditation erfahren werden kann. So
schreibt D. T. Suzuki:
Der Buddha (in Gandavyuha) ist nicht mehr der, der in der Welt von
Raum und Zeit lebt. Sein Bewußtsein ist nicht das des gewöhnlichen
Verstandes, der mit den Sinnen und der Logik operiert. . . Der
Buddha des Gandavyuha lebt in einer geistigen Welt, die ihre eigenen Gesetze hat. 20
In der modernen Physik ist die Situation sehr ähnlich. Die Vorstellung, daß jedes Teilchen alle anderen enthält, ist im gewöhnlichen Raum und in der gewöhnlichen Zeit undenkbar.
Sie beschreibt eine Wirklichkeit, die wie diejenige des Buddha
ihre eigenen Gesetze hat. Im Fall des Hadronen-Bootstrap sind
es die Gesetze der Quantentheorie und der Relativitätstheorie;
der Schlüssel zu ihm ist darin zu sehen, daß die Kräfte, die die
Teilchen zusammenhalten, selbst Teilchen sind, die in den gekreuzten Kanälen ausgetauscht werden. Diesem Begriff kann
man eine genaue mathematische Deutung geben, vorstellen
kann man ihn sich so gut wie nicht. Es ist ein spezifisch relativistischer Zug des Bootstrap, und da wir die vierdimensionale
Raum-Zeit-Welt nicht direkt erfahren, ist es äußerst schwierig,
sich vorzustellen, wie ein einzelnes Teilchen alle anderen Teilchen enthalten und gleichzeitig Teil eines jeden sein kann. Dies
ist jedoch genau die Ansicht des Mahayana:
Wenn das Eine gegen alle anderen gesetzt wird, sieht man, wie das
Eine alles durchdringt und gleichzeitig alles in
sich selbst einschließt. 21
Die Vorstellung, daß jedes Teilchen alle anderen enthält, entstand nicht nur in der östlichen Mystik, sondern auch im mystischen Gedankengut des Westens. William Blakes berühmte
Zeilen sind ein Beispiel:
In einem Sandkorn sieh die Welt,
den Himmel im Blütengrunde,
Unendlichkeit in deiner Hand
und Ewigkeit in der Stunde.
Hier hat wieder eine mystische Vision zu einem Bild vom Bootstrap-Typ geführt. Wenn der Dichter die Welt in einem Sandkorn sieht, dann sieht sie der moderne Physiker in einem
Hadron.
Ein ähnliches Bild erscheint in der Philosophie von Leibniz,
in der die Welt von Grundsubstanzen, den sogenannten »Monaden«, aufgebaut ist, von denen sich jede im ganzen Universum widerspiegelt.* In seiner Monadologie schreibt Leibniz:
Jedes Stück Materie kann gleichsam als ein Garten voller Pflanzen
oder als ein Teich voller Fische aufgefaßt werden. Aber jeder Zweig
der Pflanze, jedes Glied des Tieres, jeder Tropfen seiner Säfte ist
wieder ein solcher Garten und ein solcher Teich. 22
Es ist interessant, daß die Ähnlichkeit dieser Zeilen mit den
Passagen des Avatamsaka-Sutra von einem
tatsächlichen
buddhistischen Einfluß auf Leibniz herrühren könnte. Joseph
Needham argumentiert 23 , daß die chinesische Kultur und Gedankenwelt Leibniz durch Übersetzungen, die er von Jesuiten
erhielt, vertraut war und daß seine Philosophie durchaus von
der ihm bekannten neokonfuzianischen Schule des Chu Hsi
inspiriert gewesen sein könnte. Diese Schule hat jedoch eine
Wurzel im Mahayana-Buddhismus, und speziell in der Avatamsaka-(chinesisch: Hua-yen)Schule der Mahayana-Richtung. Needham erwähnt das Gleichnis von Indras Perlennetz
ausdrücklich in Verbindung mit den Leibnizschen Monaden.
Ein eingehender Vergleich von Leibniz' Begriff der Monaden als »ein unaufhörlicher lebendiger Spiegel des Universums« mit der Vorstellung der gegenseitigen Durchdringung im
Mahayana zeigt jedoch, daß die beiden verschieden sind und
daß die buddhistische Auffassung von der Materie dem Geist
der modernen Physik viel näher kommt als die von Leibniz. Der
Hauptunterschied zwischen der Monadologie und der buddhistischen Ansicht ist, daß die Leibnizschen Monaden Grundsubstanzen sind, die als die letzten Bestandteile der Materie angesehen werden. Leibniz beginnt seine Monadenlehre mit den
Worten: »Die Monade, von der wir hier sprechen wollen, ist
nichts anderes als eine einfache Substanz, die in die zusammengesetzten Dinge eingeht; >einfach< heißt soviel wie: ohne Teile.« Er fährt fort: »Und die Monaden sind so die wahren Atome
der Natur, und, in einem
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