Das Tao der Physik
Ausbildung unterziehen. Erst dann wird er in der Lage sein,
der Natur mit diesem Experiment eine spezielle Frage zu stellen und die Antwort zu verstehen. In ähnlicher Weise erfordert
eine tiefe mystische Erfahrung im allgemeinen viele Jahre
Übung unter einem erfahrenen Meister, und wie bei der wissenschaftlichen
Ausbildung garantiert die investierte Zeit
allein noch nicht den Erfolg. Hat der Studierende jedoch
Erfolg, so wird er das Experiment wiederholen können. Die
Wiederholbarkeit in der Erfahrung ist in der Tat wesentlich in
jeder mystischen Schulung. Sie ist das eigentliche Ziel der geistigen Instruktion der Mystiker.
Eine mystische Erfahrung ist daher so wenig einmalig wie ein
modernes physikalisches Experiment. Andererseits ist sie auch
nicht weniger kompliziert, obwohl ihre Kompliziertheit von
anderer Art ist. Die Komplexität und Funktionstüchtigkeit der
technischen Apparatur des Physikers wird von der des Bewußtseins des Mystikers — körperlich und geistig — in tiefer Meditation erreicht, wenn nicht sogar überschritten. So haben denn
die Wissenschaftler und die Mystiker hochkomplizierte, dem
Laien nicht zugängliche Methoden zur Beobachtung der Natur
entwickelt. Eine Seite aus einer Fachzeitschrift über moderne
experimentelle Physik wird dem Uneingeweihten so mysteriös
vorkommen wie ein tibetisches Mandala. Beide sind Aufzeichnungen von Untersuchungen über das Wesen des Universums.
Obwohl tiefe mystische Erfahrungen im allgemeinen nicht
ohne lange Vorbereitung auftreten, kennen wir alle in unserem
täglichen Leben direkte intuitive Einsichten. Wir alle kennen
die Situation, wo wir ein Wort oder einen Namen vergessen haben und trotz aller Konzentration nicht darauf kommen. Es
»liegt uns auf der Zunge«, aber es will nicht heraus, bis wir es
aufgeben und unsere Aufmerksamkeit anderen Dingen zuwenden und uns dann der vergessene Name blitzartig einfällt.
Bei diesem Prozeß ist kein Denken im Spiel. Es ist eine plötzliche, unmittelbare Einsicht. Dieses Beispiel plötzlicher Erinnerung ist von besonderer Relevanz im Buddhismus, der behauptet, daß unsere ursprüngliche Natur die des erleuchteten
Buddha sei und daß wir dies nur vergessen haben. Schüler des
Zen-Buddhismus werden aufgefordert, ihr »ursprüngliches
Gesicht« zu entdecken, und das plötzliche »Sich-Erinnern« an
dieses Gesicht ist ihre Erleuchtung.
Ein anderes bekanntes Beispiel für spontane intuitive Einsicht ist der Witz. In dem Sekundenbruchteil, in dem wir einen
Witz verstehen, erfahren wir einen Augenblick der »Erleuchtung«. Es ist bekannt, daß dieser Augenblick spontan kommen
muß, daß man ihn nicht durch »Erklären« des Witzes, d. h.
durch intellektuelle Analyse, hervorbringen kann. Nur wenn
wir die »Pointe« des Witzes intuitiv und unvermittelt erfassen,
erfahren wir das befreiende Lachen, das der Witz hervorbringen soll. Die Ähnlichkeit zwischen einer geistigen Erkenntnis
und dem Verstehen eines Witzes muß erleuchteten Menschen
bekannt sein, da sie fast ohne Ausnahme viel Sinn für Humor
aufweisen. Speziell Zen ist voll von lustigen Geschichten und
Anekdoten, und im Tao Te Ching lesen wir: » Könnte man nicht
darüber lachen, so würde es für das Tao nicht ausreichen.« 13
In unserem täglichen Leben sind direkte intuitive Einsichten
in das Wesen der Dinge normalerweise auf außerordentlich
kurze Augenblicke beschränkt. Nicht so in der östlichen Mystik, wo sie auf lange Zeitabschnitte ausgedehnt und schließlich
zu einer konstanten Bewußtheit werden. Die Vorbereitung des
Geistes auf diese Bewußtheit — die unmittelbare, nicht-begriffliche Bewußtheit der Wirklichkeit - ist der Hauptzweck aller
Schulen östlicher Mystik und vieler Aspekte der östlichen Lebensweise. Während der
langen
Kulturgeschichte
Indiens,
Chinas und Japans wurde eine ungeheure Vielfalt von Techniken, Ritualen und Kunstformen entwickelt, um diesen Zweck
zu erreichen, die man alle im weitesten Sinn des Wortes »Meditationen« nennen kann.
Das Grundziel dieser Techniken ist es, den denkenden Verstand zum Schweigen zu bringen und vom rationalen auf das intuitive Bewußtsein umzuschalten. In vielen Formen der Meditation wird das rationale Bewußtsein dadurch zum Schweigen
gebracht, daß man seine Aufmerksamkeit auf einen einzigen
Punkt, wie den Atem, den Klang eines Mantras oder das Bild
eines Mandalas, konzentriert. Andere Schulen konzentrieren
die Aufmerksamkeit auf Körperbewegungen, die
spontan,
ohne die Einmischung irgendwelcher
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