Das Tao der Physik
traditionellen
Kulturen Chinas und Japans. In Japan ließ der starke Einfluß
des Zen auf die Tradition der Samurai das entstehen, was als bushido bekannt ist, der »Weg des Kriegers«, eine Kunst des
Schwertfechtens, in der die geistige Einsicht des Schwertträgers
ihre höchste Perfektion erreicht. Das taoistische T'ai Chi
Ch'uan, das als die höchste Kriegskunst in China angesehen
wurde, kombiniert langsame und rhythmische »Yoga«-Bewegung auf einzigartige Weise mit der vollen geistigen Wachsamkeit des Kriegers.
Östliche Mystik beruht auf direkten Einsichten in das Wesen
der Wirklichkeit, und Physik beruht auf der wissenschaftlichexperimentellen Beobachtung von Naturphänomenen. In beiden Bereichen werden die Beobachtungen dann interpretiert,
und die Interpretation wird nachher häufig mit Hilfe von Worten vermittelt. Da Worte immer nur eine abstrakte, annähernde Landkarte der Wirklichkeit sind, müssen die verbalen
Interpretationen
eines wissenschaftlichen Experiments oder
einer mystischen Erkenntnis notwendigerweise ungenau und
unvollständig sein. Moderne Physiker und östliche Mystiker
sind sich dieser Tatsache wohl bewußt.
In der Physik nennt man die Interpretation von Experimenten Modelle oder Theorien, und die Erkenntnis, daß sie nur
Annäherungswert haben, ist eine Grundweisheit der modernen
wissenschaftlichen Forschung. So lautet der Aphorismus von
Einstein: »Soweit sich die Gesetze der Mathematik auf die
Realität beziehen, sind sie nicht gesichert; und soweit sie gesichert sind, beziehen sie sich nicht auf die Realität.« Physiker
wissen, daß ihre Methode der Analyse und der logischen Beweisführung niemals das ganze Reich der Naturphänomene auf
einmal erklären kann, und so sortieren sie eine bestimmte
Gruppe von Phänomenen aus und versuchen, ein Modell zur
Beschreibung dieser Gruppe aufzustellen. Dabei lassen sie
dann andere Phänomene beiseite, und das Modell gibt daher
keine vollständige Beschreibung der wirklichen Situation. Die
nicht berücksichtigten Phänomene können entweder eine so
kleine Wirkung haben, daß ihr Einbezug die Theorie nicht
merklich ändern würde, oder sie sind einfach deshalb ausgelassen worden, weil sie zur Zeit der Aufstellung der Theorie noch
nicht bekannt waren.
Zur Verdeutlichung wollen wir einen Blick auf das bekannteste physikalische Modell,
Newtons
»klassische«
Mechanik,
werfen. Die Wirkung von Luftwiderstand oder Reibung wird
zum Beispiel in diesem Modell gewöhnlich nicht berücksichtigt,
da sie meist sehr gering ist. Doch abgesehen von solchen Auslassungen wurde die Newtonsche Mechanik lange Zeit als die
endgültige Theorie für die Beschreibung aller Naturphänomene angesehen, bis es zur Entdeckung elektrischer und magnetischer Phänomene kam, die in Newtons Theorie keinen
Platz hatten. Die Entdeckung dieser Phänomene zeigte, daß
das Modell unvollständig war, daß es nur auf eine begrenzte
Gruppe von
Phänomenen angewandt werden konnte, im
wesentlichen auf die Bewegung fester Körper.
Eine begrenzte Gruppe von Phänomenen zu studieren, kann
auch bedeuten, ihre physikalischen Eigenschaften nur innerhalb eines begrenzten Bereichs zu studieren, was ein anderer
Grund dafür sein kann, daß die Theorie nur näherungsweise
gilt. Dieser Aspekt der Annäherung ist subtil, da wir nie im voraus wissen, wo die Grenzen einer Theorie liegen. Nur die Erfahrung kann es zeigen. So wurde das Bild der klassischen Mechanik weiter unterhöhlt, als die Physik des zwanzigsten Jahrhunderts seine wesentlichen Begrenzungen aufzeigte. Heute
wissen wir, daß das Newtonsche Modell nur für Objekte gilt,
die aus einer großen Anzahl von Atomen bestehen, und nur für
sehr kleine Geschwindigkeiten im Vergleich zur Lichtgeschwindigkeit. Ist die erstere Bedingung nicht gegeben, so muß
die klassische Mechanik durch die Quantentheorie ersetzt werden; wird die zweite Bedingung nicht erfüllt, ist die Relativitätstheorie anzuwenden. Das heißt nicht, daß Newtons Modell
»falsch« ist oder die Quantentheorie und die Relativitätstheorie »richtig«. All diese Modelle sind Annäherungen, die in einem bestimmten Bereich der Phänomene gelten. Jenseits dieses Bereichs geben sie keine befriedigende Beschreibung der
Natur mehr, und man muß neue Modelle finden, um die alten
zu ersetzen oder, besser, diese durch Verbesserung der Annäherung auszuweiten.
Die Begrenzungen eines gegebenen Modells anzuführen, ist
oft eine der schwierigsten und doch eine der wichtigsten Aufgaben bei
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