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Das Tao der Physik

Das Tao der Physik

Titel: Das Tao der Physik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fritjof Capra
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dessen Konstruktion. Nach Geoffrey Chew, dessen
»Bootstrap«-Theorie später ausführlich diskutiert wird (siehe
S. 286), ist es wesentlich, sich immer zu fragen, sobald ein bestimmtes Modell oder eine Theorie bewiesen hat, daß sie funktioniert: Warum funktioniert sie? Was sind die Grenzen des
Modells? In welcher Weise ist es eine Annäherung? Diese Fragen sieht Chew als erste Stufe zu weiterem Fortschritt.
    Auch die östlichen Mystiker sind sich der Tatsache bewußt,
daß alle verbalen Beschreibungen der Wirklichkeit ungenau
und unvollständig sind. Die direkte Erfahrung der Wirklichkeit
geht über Gedanken und Sprache hinaus, und da jede Mystik
auf solch einer Erfahrung beruht, kann alles, was darüber gesagt wird, nur teilweise wahr sein. Der annähernde Erkenntniswert physikalischer Ergebnisse wird quantifiziert, so daß
durch schrittweise Verbesserung der Annäherung ein Fortschritt erzielt wird. Wie also behandeln die östlichen Traditionen das Problem der verbalen Vermittlung?
    Zuerst einmal sind Mystiker an der Erfahrung der Wirklichkeit interessiert und nicht an der Beschreibung dieser Erfahrung. Sie sind daher im allgemeinen nicht an der Analyse einer
solchen Beschreibung interessiert, und der Begriff einer gut definierten Annäherung ist daher in der östlichen Gedankenwelt
nie entstanden. Wenn die östlichen Mystiker aber ihre Erfahrung übermitteln wollen, werden sie mit den Grenzen der Sprache konfrontiert. Verschiedene Wege wurden im Osten entwickelt, um dieses Problem zu lösen.
    Die indische, insbesondere die hinduistische Mystik kleidet
ihre Aussagen in die Form von Mythen und gebraucht Metaphern und Symbole, poetische Bilder, Gleichnisse und Allegorien. Die mythische Sprache ist viel weniger von Logik und
Verstand eingeengt. Sie ist voll von Magie und paradoxen Situationen, reich an anregenden Bildern und nie präzise, und
somit kann sie die Art, in der Mystiker die Wirklichkeit erfahren, viel besser vermitteln als die Sprache der Fakten. Nach
Ananda Coomaraswamy verkörpert der Mythos die »größtmögliche Annäherung an die Wahrheit, die mit Worten aufgestellt werden kann«. 17
    Die reiche indische Vorstellungskraft hat eine große Anzahl
von Göttern und Göttinnen geschaffen, deren Inkarnationen
und Heldentaten Gegenstand fabelhafter Erzählungen, gesammelt in Epen von
gewaltigen Dimensionen, sind. Der
Hindu weiß, daß alle diese Götter Geschöpfe des Geistes sind,
mythische Bilder, die die vielen Gesichter der Wirklichkeit repräsentieren. Andererseits weiß er auch, daß sie nicht nur geschaffen wurden, um die Geschichten auszuschmücken, sondern daß sie wesentliches Hilfsmittel darstellen, um die Lehren
einer in
mystischen Erfahrungen verwurzelten Philosophie
weiterzuvermitteln.
    Chinesische und japanische Mystiker haben einen anderen
Ausweg aus dem Sprachproblem gefunden. Statt die paradoxe
Natur der Realität durch Symbole und Mythen verständlich zu
machen, ziehen sie es oft vor, sie mithilfe der alltäglichen Sprache zu betonen. So benutzen die Taoisten häufig Paradoxa, um
die Widersprüche, die aus der Verständigung durch Worte entstehen, aufzudecken und die Grenzen dieser Verständigungsmöglichkeit zu zeigen. Sie haben diese Technik den chinesischen und japanischen Buddhisten vermittelt, die sie weiterentwickelten. Sie hat ihren Höhepunkt im Zen-Buddhismus
mit den sogenannten »Koans« erreicht, jenen unsinnigen Rätseln, welche von vielen Zen-Meistern zur Vermittlung ihrer
Lehren gebraucht werden. Diese Koans stellen eine bedeutende Parallele zur modernen Physik dar (s. Kapitel 3).
    In Japan können philosophische Anschauungen auch mithilfe einer außerordentlich prägnanten Poesie ausgedrückt
werden, die oft von Zen-Meistern benutzt wird, um direkt auf
das »So-Sein« der Realität zu verweisen. Als ein Mönch Fuketsu Ensho fragte: »Wenn sowohl Sprache als auch Schweigen
unzulässig sind, wie kann man einen Irrtum vermeiden?«, antwortete der Meister:
Ich erinnere mich immer an Kiangsu im März —
     
den Schrei des Rebhuhns
18 die Menge von duftenden Blumen.
    Diese Form spiritueller Poesie erreichte ihre Vollendung mit
dem »Haiku«, einer klassischen japanischen Strophe von genau siebzehn Silben, die stark vom Zen beeinflußt wurde. Die
Wesensschau, die diese Haiku-Dichter erreichten, kommt
selbst in der Übersetzung zum Ausdruck:
Blätter fallen,
     
eins liegt auf dem anderen; 19Regen peitscht den Regen.
    Wenn immer die östlichen Mystiker ihr Wissen in Worten

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