Das Tao der Physik
die Hindus nicht im geringsten, weil sie wissen, daß
Brahman sowieso jenseits aller Konzepte und Bilder liegt. Aus
dieser Haltung kommt die große Toleranz und Vielfältigkeit
des Hinduismus.
Die intellektuellste Schule ist der Vedanta, der auf den Upanischaden beruht und Brahman als unpersönlichen, metaphysischen Begriff bezeichnet, frei von irgendwelchen mythologischen Inhalten. Trotz seines hohen philosophischen und intellektuellen Niveaus ist der vedantische Weg zur Befreiung
jedoch sehr verschieden von allen Schulen der westlichen
Philosophie, da er tägliche Meditationen und andere geistige
Übungen einschließt, um die Vereinigung mit Brahman herbeizuführen.
Eine andere wichtige Methode der Befreiung ist bekannt als
»Yoga«, ein Wort, das »verbinden, vereinigen« bedeutet und
sich auf die Vereinigung der individuellen Seele mit Brahman
bezieht. Es gibt mehrere Schulen oder »Wege« des Yoga; sie
beinhalten einige körperliche Grundübungen und verschiedene geistige Disziplinen für die verschiedenen Menschentypen, je nach ihrem geistigen Niveau.
Der gewöhnliche Hindu verehrt das Göttliche am liebsten in
Gestalt eines persönlichen Gottes oder einer Göttin. Die
fruchtbare indische Vorstellungskraft hat Tausende von Gottheiten geschaffen, die in unzähligen Manifestationen erscheinen. Die drei am meisten verehrten Gottheiten in Indien sind
heute Shiva, Vishnu und die Göttliche Mutter. Shiva ist einer
der ältesten indischen Götter, der viele Formen annehmen
kann. Er heißt Mahesvara, der Große Herr, wenn er als die Personifikation der Fülle des Brahman auftritt. Er kann aber auch
viele einzelne Aspekte des Göttlichen verkörpern. Seine berühmteste Erscheinung ist die des Nataraja, des Königs der
Tänzer. Als der kosmische Tänzer ist Shiva der Gott der Erschaffung und der Zerstörung, der durch seinen Tanz die endlosen Rhythmen des Universums erhält.
Vishnu hat ebenfalls viele Gesichter; eins davon ist das des
Gottes Krishna aus der Bhagavad Gita. Im allgemeinen verkörpert Vishnu den Erhalter des Universums. Die dritte Gottheit in dieser Triade ist Shakti, die göttliche Mutter, die UrGöttin, die in ihren vielen Formen die weibliche Energie des
Universums repräsentiert.
Shakti erscheint auch als Shivas Gattin. In großartigen Tempelskulpturen sind beide oft in leidenschaftlicher Umarmung
abgebildet und strahlen eine so außerordentliche Sinnlichkeit
aus, wie sie in der westlichen religiösen Kunst völlig unbekannt
ist. Im Gegensatz zu den meisten westlichen Religionen wurde
die Sinnenfreude im Hinduismus niemals unterdrückt, weil er
den Körper immer als integralen Bestandteil des Menschen betrachtete und nicht als vom Geist getrennt. Der Hindu versucht
daher nicht, seine körperlichen Triebe durch den bewußten
Willen zu kontrollieren, sondern zielt auf die Selbstverwirklichung seines ganzen Wesens, seines Körpers und Geistes. Der
Hinduismus hat sogar eine Richtung entwickelt, den mittelalterlichen Tantrismus, wo die Erleuchtung durch ein tiefes Erleben der sinnlichen Liebe gesucht wird, »in der jeder zugleich
beide ist«, in Übereinstimmung mit den Worten der Upanischaden:
Wie ein von einer liebenden Frau umfangener Mann kein Bewußtsein von draußen oder drinnen hat, so hat dieser in dem Körper
wohnende Atman, von dem erkennenden Atman umfangen, kein
Bewußtsein von draußen oder drinnen. 9
Shiva steht in engem Zusammenhang mit dieser mittelalterlichen Form erotischer Mystik, ebenso Shakti und viele andere
weibliche Gottheiten, die es in der Hindu-Mythologie in großer
Zahl gibt. Dieses Übermaß an Göttinnen zeigt erneut, daß die
körperliche und die sinnliche Seite der menschlichen Natur, die
immer mit dem Weiblichen in Verbindung gebracht wird, im
Hinduismus ein integraler Teil des Göttlichen ist. Hindu-Göttinnen treten nicht als heilige Jungfrauen auf, sondern in sinnlicher Umarmung von hinreißender Schönheit.
Der westliche Verstand wird leicht durch die ungeheure Anzahl von Göttern und Göttinnen verwirrt, die die Hindu-Mythologie in ihren verschiedenen Erscheinungen und Inkarnationen bevölkern. Die Hindus kommen mit dieser Vielzahl von
Gottheiten zurecht, weil diese für sie im Grunde identisch sind.
Alle sind Manifestationen derselben göttlichen Wirklichkeit
und spiegeln die verschiedenen Aspekte des unendlichen, allgegenwärtigen und letztlich unfaßbaren Brahman.
Bild 1: Selbstverwirklichung durch die Erfahrung der sinnlichen Liebe (vgl.
Kapitel 5).
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