Das Tao der Physik
direkte mystische Erfahrung der
Realität, das Endziel.
Der Buddha baute seine Lehre nicht zu einem festen philosophischen System aus, sondern betrachtete sie als ein Mittel,
zur Erleuchtung zu kommen. Seine Aussagen über die Welt beschränken sich auf die Betonung der Unbeständigkeit aller
»Dinge«. Er besteht auf Freiheit von geistiger Autorität einschließlich seiner eigenen und sagt, daß er nur den Weg zur
Buddhaschaft zeigen kann und daß jeder sich selbst bemühen
muß, diesen Weg zu Ende zu gehen. Buddhas letzte Worte auf
seinem Totenbett sind für seine Weltanschauung und für seine
Haltung als Lehrer charakteristisch. »Der Verfall ist Bestandteil aller Dinge«, sagte er vor dem Dahinscheiden, und: »Strebt
eifrig weiter.« 2
In den ersten Jahrhunderten nach Buddhas Tod hielten die
führenden Mönche des buddhistischen Ordens mehrere große
Beratungen ab, bei denen die gesamte Lehre laut rezitiert und
Differenzen in der Deutung geklärt wurden. Die vierte dieser
Beratungen fand im ersten Jahrhundert n. Chr. auf Ceylon
statt. Dort wurde die Lehre, die über fünf Jahrhunderte nur
mündlich überliefert worden war, erstmals niedergeschrieben.
Diese Niederschrift in der Pali-Sprache kennen wir als den
Pali-Kanon, die Basis der orthodoxen Hinayana-Schule. Die
Mahayana-Schule andererseits basiert auf einer Reihe sogenannter Sutras, Schriften von mächtigem Umfang, die ein- oder
zweihundert Jahre später in Sanskrit geschrieben wurden und
die Buddhas Lehre in einer sehr vertieften und viel subtileren
Art wiedergeben als der Pali-Kanon.
Die Mahayana-Schule nennt sich selbst »Großer Wagen des
Buddhismus«, weil sie ihren Anhängern eine Vielzahl von Methoden oder »kunstgerechten Mitteln« zum Erzielen der
Buddhaschaft bietet. Diese reichen von Lehren, die den religiösen Glauben an die Lehren Buddhas betonen, bis zu einer ausgefeilten Philosophie mit Begriffen, die der modernen wissenschaftlichen Denkweise sehr nahekommen.
Der erste Interpret der Mahayana-Doktrin und einer der
weisesten Denker unter den buddhistischen Patriarchen war
Ashvaghosha. Er lebte im ersten Jahrhundert n. Chr. und
schrieb die Grundgedanken des Mahayana-Buddhismus — speziell die, die sich auf den buddhistischen Begriff des »So-Seins«
beziehen - in einem kleinen Buch mit dem Titel Das Erwachen
des Glaubens nieder. Dieser klare und außerordentlich schöne
Text, der in vieler Hinsicht an die Bhagavad Gita erinnert, stellt
die erste repräsentative Abhandlung der Mahayana-Lehre dar
und wurde zu einer Grundlage für alle Schulen des Mahayana-Buddhismus.
Ashvaghosha hatte wahrscheinlich einen starken Einfluß auf
Nagarjuha, den intellektuellsten Mahayana-Philosophen, der
eine sehr feine Dialektik benutzte, um die Grenzen aller Begriffe der Realität zu zeigen. Mit glänzenden Argumenten widerlegte er die metaphysischen Behauptungen seiner Zeit und
demonstrierte, daß Realität letztlich nicht mit Begriffen und
Ideen erfaßbar ist. Daher gab er ihr den Namen sunyata, die
»Leere«, ein Ausdruck, der Ashvaghoshas tathata oder »SoSein« entspricht. Wer die Vergeblichkeit alles begrifflichen
Denkens erkennt, wird die Realität als reines So-Sein erfahren.
Nagarjunas Grundsatz, daß die Leere die wesentliche Natur
der Realität sei, ist weit von dem Nihilismus entfernt, den man
ihm oft zur Last legt. Er meint lediglich, daß alle Begriffe von
der Realität, die der menschliche Verstand hervorgebracht hat,
letztlich leer sind. Realität bzw. Leere selbst ist kein Zustand
des bloßen Nichts, sondern die eigentliche Quelle allen Lebens
und die Essenz aller Formen.
Diese Anschauungen des Mahayana-Buddhismus geben
seine intellektuelle, spekulative Seite wieder. Dies ist jedoch
nur eine Seite des Buddhismus. Sie wird ergänzt durch das religiöse Bewußtsein des Buddhismus, welches Glauben, Liebe
und Barmherzigkeit umfaßt. Der Mahayana sieht wahre, erleuchtete Weisheit (bodhi) als aus zwei Elementen zusammengesetzt, die D. T. Suzuki »die zwei Säulen, die das große Gebäude des Buddhismus tragen«, nannte. Es sind prajna, die
transzendente Weisheit oder intuitive Intelligenz, und karuna, Liebe oder Barmherzigkeit. Entsprechend wird die wesentliche
Natur aller Dinge im Mahayana-Buddhismus nicht nur durch
die abstrakten metaphysischen Ausdrücke So-Sein und Leere
beschrieben, sondern auch durch den Ausdruck dharmakaya, »Körper des Seins«, der die Realität so beschreibt, wie sie dem
religiösen Bewußtsein des Buddhisten erscheint.
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